Monatsinterview
«Ich weiss, was ich brauche und werde darum auch nicht nervös»
David Graf ist seit Jahren das Aushängeschild des Schweizer BMX-Sports. Ab der Saison 2021 wird er als Elite-Nationaltrainer tätig sein. Bild: Keystone
David Graf ist das Aushängeschild des Schweizer BMX-Sports. Im Monatsinterview von Swiss Cycling spricht der 30-jährige Zürcher über die Vorbereitung auf die Olympischen Spiele, seine künftige Rolle als Nationaltrainer und das Potenzial der aufstrebenden Romande Zoé Claessens.
- Der Schweizer Sport steht still – wie nimmst du die Situation wahr?
David Graf: Aus der Distanz. Meine Trainingsbasis befindet sich in Stuttgart, hier steht eine der besten BMX-Bahnen Europas. Im Moment sind sämtliche Sportanlagen geschlossen. Wir versuchen derzeit, in der Tiefgarage ein Kraft- und Sprinttraining aufzuziehen.
- Warum kehrst du nicht in die Schweiz zurück?
Meine Partnerin lebt in Stuttgart, und ich weiss auch nicht, ob mich Deutschland wieder einreisen liesse, wenn ich in die Schweiz zurückkehren würde. Hier am Stützpunkt besteht die Hoffnung, für Olympiateilnehmer eine Ausnahmebewilligung zu erhalten.
- Wie gehst du mit dieser Situation um?
Wir Spitzensportler haben es doch gut. Klar, wir können nicht im gewohnten Rahmen trainieren, aber verglichen mit vielen anderen Menschen haben wir auch in solchen Tagen ein lockeres, angenehmes Leben. Ich weiss ziemlich genau, was ich brauche und werde darum auch nicht nervös.
- Was brauchst du denn?
Unsere Weltcuprennen fänden allesamt im Frühling statt, die WM ist auf Ende Mai angesetzt. Die Wahrscheinlichkeit ist deshalb relativ hoch, dass unser erster und auch letzter bedeutender Wettkampf an den Olympischen Spielen stattfinden wird. Ich weiss, dass ich ungefähr 30 Bahntrainings benötige, um mein höchstes Niveau zu erreichen. Da bleibt noch genügend Zeit.
- Würde sich die Ausgangslage verändern, wenn dieses Szenario real werden sollte?
Schwierig zu sagen, aber für mich wäre es bestimmt kein Nachteil. Anfang Saison läuft es mir in der Regel sehr gut. Ich brauche weniger Anlaufzeit als andere, komme schnell auf Touren.
„Ich habe Spass an der Leistung, nicht nur an meiner eigenen.“
Spektakulärer Hochleistungssport: David Graf, Cédric Butti und Renaud Blanc (von links) präsentieren auf der BMX-Bahn in Grenchen ihre Flügkünste. Bild: Keystone
- Der olympische Wettkampf ist das letzte Highlight in deiner Karriere. Stand jetzt ist nicht auszuschliessen, dass die Spiele abgesagt werden. Wie gehst du mit diesem Gedanken um?
Er ist präsent, er beschäftigt mich, und es geht hierbei nicht nur um Olympia.
- Was geht dir durch den Kopf?
Ich gehöre seit ein paar Jahren zu jenen Athleten, die fähig sind, einen Wettkampf auf höchster Stufe zu gewinnen. Ich habe es im Weltcup, an der EM und an der WM auf das Podest geschafft, aber ganz oben bin ich noch nie gestanden. Vor der Saison sagte ich mir: Dir bleiben zwölf Rennen, um diese Lücke zu schliessen. Zwei fanden statt, ich wurde einmal Dritter, der Auftakt war richtig gut.
- Aus zehn verbleibenden Chancen wird nun womöglich nur eine – oder allenfalls gar keine.
Das ist das Spezielle an der aktuellen Situation, und es geht nicht nur um mich, sondern um den Schweizer BMX-Sport. Allein schon der Fördergelder wegen würde uns ein Medaillengewinn an Welt- oder Europameisterschaften viel bringen. Wir waren zuletzt mehrfach nahe dran, aber es ist nie aufgegangen. Nun finden diese Wettkämpfe vielleicht gar nicht statt.
- Du denkst an den nächsten Olympiazyklus, welchen du als Elite-Nationaltrainer erleben wirst. Was hat dich bewogen, diesen Schritt zu machen?
Es waren eher zwei Schritte. Wenn du dich als Spitzenathlet in einer kleinen Sportart für die Fortsetzung der Karriere entscheidest, tust du das für vier Jahre, bis zu den nächsten Olympischen Spielen. Ich konnte und kann mir jedoch nicht vorstellen, nochmals vier Jahre anzuhängen. Der zweite Schritt war dann die logische Folge des ersten.
- Inwiefern?
Ich bin seit Jahren mein eigener Trainer und betreue einen Teil unserer jüngeren Athleten als Privatcoach. Ich habe Spass an der Leistung, nicht nur an meiner eigenen. Zudem habe ich in meiner Karriere viel gelernt – und grosses Interesse, mit anderen Athleten zu arbeiten. Als Grant White (bis 2019 Nationaltrainer; die Red.) zurücktrat und ich angefragt wurde, führte das eine zum anderen. Klar, der Übergang wird fliessend sein, aber ich werde nach dem Rücktritt sicher nicht ins Leere fallen (schmunzelt).
- Wie beurteilst du die mittelfristigen Perspektiven des Schweizer Nationalteams?
Bei den Männern haben wir vier talentierte Athleten mit Jahrgang 1999. Simon Marquart ist 24-jährig, damit auch noch jung, und mit Renaud Blanc gibt es einen hoch professionell arbeitenden und immer noch sehr motivierten Routinier, der an guten Tagen mit den Besten mithalten kann. Wir sind gut aufgestellt, aber es könnte noch besser zur Geltung kommen.
- Woran denkst du?
Cédric Butti gehört zu den besten U23-Fahrern der Welt. Das merkt ausserhalb der Szene jedoch niemand, weil es im BMX im Unterschied zu den andern olympischen Radsportarten die U23-Kategorie noch nicht gibt. Wer altersmässig aus der U19-Kategorie ausscheidet, muss gleich bei der Elite antreten. Das ist ein riesiger Sprung und ein Grund, dass uns Talente abhanden kommen, weil sie die Motivation verlieren und ihre Karrieren beenden.
„Zoé hat das Potenzial, die Popularität des BMX-Sports in der Schweiz nachhaltig zu erhöhen.“
- Ist die Ausgangslage besser als vor zehn Jahren, als du der aufstrebende Junge warst?
Zweifellos, mit der Ausgangslage hat sich aber auch die Erwartungshaltung verändert.
- Wie meinst du das?
Früher waren wir mit einer Viertelfinalqualifikation zufrieden. Heute sind die Ziele höher, es will jeder in den Final vorstossen, wir treiben uns gegenseitig an.
- Wie sieht es bei den Frauen aus?
Überaus erfreulich! Wir haben mit Zoé Claessens und Nadine Aeberhard zwei sehr junge Athletinnen, die in ihrer Alterskategorie Weltklasse verkörpern. Zoé hat es als Juniorin sogar in einen Weltcupfinal geschafft; das kommt sehr selten vor. Es gibt in der Szene einige, welche ihr zutrauen, das Geschehen künftig zu prägen.
- Was zeichnet sie aus?
Sie ist noch nicht einmal 19-jährig, technisch aber schon eine der Stärksten im Feld. Bei den Männern läuft fast alles über die Physis, weil einfach jeder sehr gut Velo fährt. Bei den Frauen ist die Dichte geringer, da kann man mit einer guten Technik die Differenz schaffen. Zoé hat das Potenzial, die Popularität des BMX-Sports in der Schweiz nachhaltig zu erhöhen. Sie ist der Beweis, dass man es als Schweizerin bis ganz nach oben schaffen kann. Junge BMX-Fahrerinnen haben nun ein Vorbild, dem sie nacheifern können. Das ist extrem wertvoll.