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Michael Schär

«Heute sind viele Sportliche Leiter fahrende GPS-Geräte»

Letzter Auftritt in Rot-Weiss: Michael Schär vertrat das Nationalteam Ende September an der EM im holländischen Drenthe. Bild: Arne Mill

Am 8. Oktober wird Michael Schär nach 18 Profijahren und weit über 200’000 Rennkilometern sein letztes Rennen bestreiten; es handelt sich um Paris–Tours. Ready to Ride, das Magazin von Swiss Cycling, hat sich mit dem 37-jährigen Luzerner im September über seine Karriere und die Folgen der Professionalisierung unterhalten.

Was geht dir durch den Kopf, wenn du an dein letztes Profirennen denkst?
Michael Schär: Es fühlt sich an, als hätte ich die Hühnerhautmomente schon hinter mir. Extrem aufwühlend waren die Bekanntgabe des Rücktritts und die Tour de Suisse-Etappe in Nottwil, als die Profikollegen Spalier standen – wohl auch, weil der Entscheid trotz allem nicht einfach gewesen war.

Trotz allem?
Als ich vor drei Jahren bei AG2R unterschrieben hatte, war mir eigentlich klar gewesen, dass es mein letzter Vertrag sein würde. Ich hatte daher genügend Zeit, mich auf den Schritt vorzubereiten. Aber als es dann so weit war, wurde es dennoch schwierig.

Inwiefern?
Ich verpasste als 18-Jähriger meine Maturfeier, weil ich bereits einen Profivertrag unterschrieben hatte und in ein Camp nach Spanien einrücken musste. Ich kenne nur das Profidasein, habe keine Ahnung vom Berufsleben. Gleichzeitig fällt es mir seit dem Entscheid schwer, den Fokus zu halten. Weil ich nicht mehr liefern muss, weil es nicht mehr darum geht, sich für einen neuen Vertrag zu empfehlen.

Hast du das Kapitel demnach schon ein Stück weit beendet?
Emotional schon. Ich sagte meiner Familie denn auch, es sei nicht nötig, mich an das letzte Rennen zu begleiten. Ich gehe hin, fahre das Rennen – und freue mich darauf, nach Hause zu kommen. Wichtig ist mir, meiner Linie treu zu bleiben, das Training und die Arbeit in den Rennen bis zum letzten Kilometer durchzuziehen.

Kehren wir vom Ende zum Anfang zurück, dein erstes World Tour-Rennen war die Benelux-Tour im Jahr 2006. Erinnerst du dich an die Rundfahrt?
Ja, als wäre es gestern gewesen. Ich sass im Flugzeug, als mich der damalige Phonak-Sportchef John Lelangue anrief. Er sagte mir, das Team werde per Ende Saison aufgelöst (lacht). Mich warf das nicht aus der Bahn. Ich war jung und überzeugt, dass schnell eine andere Türe aufgehen würde.

Wenn man 1,98 Meter gross ist, wendet man sich in der Regel Sportarten wie Volleyball oder Basketball zu. Warum bist du Veloprofi geworden?
Als Schüler spielte ich Volleyball, in den Radsport jedoch bin ich hineingewachsen. Mein Vater war Veloprofi gewesen, er hatte ein Velogeschäft; es lag auf der Hand. Wobei ich von den Eltern nicht gepusht wurde – den Antrieb hatte ich in mir drin. Die Körpergrösse hat übrigens auch gute Seiten. Meine Leader waren immer froh, wenn sie sich in meinem Windschatten aufhalten konnten (lacht).

«Leader» ist ein gutes Stichwort: Was wäre aus dir geworden, wenn du dich nicht mit der Helferrolle zufriedengegeben hättest?
Ich würde nun kaum auf eine so lange Profikarriere zurückblicken. Als Nachwuchsathlet hatte ich vieles gewonnen, aber bei den Profis merkte ich relativ schnell, dass das Talent einfach nicht reicht, um ganz vorne mitzufahren.

An der WM 2006 in Salzburg hattest du als 20-Jähriger den zweiten Startplatz für das Elite-Zeitfahren neben Fabian Cancellara erhalten. Ein gewisses Potenzial muss vorhanden gewesen sein.
Zweifelsfrei, ich fuhr auch mehrfach in die Top 20. Aber das interessierte niemanden. Wenn du dich in der World Tour über das Zeitfahren etablieren willst, braucht es Top-5-Plätze. Meine Alternative zur Helferrolle wäre gewesen, die Karriere zu beenden und ein Studium zu beginnen. Ich bin froh, hatte ich in dieser Phase die richtigen Leute um mich herum.

An wen denkst du?
An ältere Kollegen, insbesondere an Gregy Rast, der mir aufzeigte, dass man seine Glückseligkeit auch in der Helferrolle finden, sich auch über den Sieg eines anderen freuen kann.

Du hast die eigenen Ambitionen zurückgesteckt. Bist du der Typ dafür, oder musstest du das lernen?
Es war schon ein Prozess, einer zwischen zwei Welten. In der Szene ist die Wertschätzung seitens der Leader und der Teamverantwortlichen riesig; auf dem Markt war ich ein gefragter Mann. In der Öffentlichkeit hingegen muss ich mich heute noch erklären. Dabei ist es im Fussball kaum anders. Der Stürmer ist der Held, weil er Tore schiesst. Der Verteidiger ist aber genauso wichtig, weil er Tore verhindert. Entsprechend hoch ist die Wertschätzung der Teamkollegen für dessen Einsatz.

Du hast acht Elite-Strassen-WM-Rennen bestritten – und deren fünf vorzeitig beendet.
Nehmen wir das Beispiel Florenz (WM 2013; die Red.). Fabian (Cancellara) war in Topform. Wir fuhren für ihn, den ganzen Tag vorne, voll auf Sieg. Ich war bis Kilometer 230 dabei, bis zur letzten Runde. Dann stieg ich aus, ausgepumpt, völlig leer. Mein Job war erledigt und die Erholung im Hinblick auf das nächste Rennen wichtiger, als das Finisher-Shirt abzuholen.

Aber in den Olympiarennen bist du über die Ziellinie gefahren – warum?
Olympia ist anders. Mein Vater war 1972 in München als Athlet dabei gewesen, während den Spielen lief bei uns jeweils 24 Stunden lang der Fernseher – ich bin mit dem Olympia-Spirit aufgewachsen. 2012 in London lieferten wir das wohl beste Rennen in meiner Karriere ab. Der Sieg lag schon auf dem Serviertablett, und dann kam dieser Sturz von Fabian. Das war hart, aber das Erlebnis hat uns Athleten zusammengeschweisst.

Was bezeichnest du als grössten Erfolg in deiner Karriere?
Nüchtern betrachtet ist es der Tour de France-Gesamtsieg von Cadel Evans mit BMC (2011; die Red.). In emotionaler Hinsicht sind es die Tour de France-Etappensiege im Teamzeitfahren (2015 und 2018). Was gibt es Schöneres, als gemeinsam mit deinen Kollegen auf das Tour-Podest zu steigen? Persönlich ist es der Schweizer Meistertitel (2013); es war cool, dieses Trikot ein Jahr lang tragen zu dürfen.

Im Verlauf der Jahre wurdest du vom Helfer zum Road Captain. Was muss man für diese Rolle mitbringen?
Nicht viel, man wächst in die Rolle hinein. Es geht primär darum, ein Vorbild zu sein, an dem sich die andern orientieren können. Ich halte mich im Feld möglichst vorne auf, spreche in schwierigen Phasen mit den Jüngeren und sage ihnen, dass die anderen auch schwere Beine haben. Wichtig ist in dieser Funktion die Glaubwürdigkeit. Und diese erlangt man, indem man professionelles Verhalten vorlebt.

In welchen Situationen ist der Road Captain besonders gefordert?
Wenn der Wind weht und man schauen muss, dass das Team gut positioniert ist. Da braucht es Erfahrung und das richtige Gespür. Läuft es dumm, hast du das ganze Team «verbraten» und trotzdem keinen Fahrer in der ersten Staffel. Als Road Captain bist du der verlängerte Arm des Sportlichen Leiters – und damit während des Rennens für die Taktik zuständig.

Aus diesem Grund hört man oft, die besten Sportlichen Leiter seien ehemalige Road Captains. Wird es aus dir einen Sportlichen Leiter geben
Warum nicht; es ist zumindest ein Thema. Unlängst sass ich wegen einer Verletzung erstmals im Auto des Sportlichen Leiters. Zuweilen fühlte es sich an wie bei Mario Kart (ein Autorennen-Videospiel), da war ich ein bisschen erstaunt. Aber ich registrierte rasch, dass ich mich taktisch und technisch einbringen könnte – wohl besser als die meisten Leader.

Warum?
Der Leader hat in der Regel zu wenig Schmerzen in den Beinen, um zu wissen, wie ein Rennen funktioniert. Der Road Captain hingegen hat weniger Talent, er fliegt den Gotthardpass nicht hoch. Er ist gezwungen, schlau zu fahren, die sich eröffnenden Vorteile zu nutzen und möglichen Nachteilen aus dem Weg zu gehen. Er lernt automatisch, das Rennen zu lesen, es zu verstehen.

Du bist nicht nur einer der Erfahrensten, sondern auch einer der lautesten Kritiker im Feld – vor allem beim Thema Funk. Ist ein Rennen ohne Funk sicherer als eines mit Funk?
Unter dem Strich ja, da bin ich absolut sicher, und die meisten Fahrer teilen diese Ansicht. Taktische Durchsagen gibt es kaum mehr, viele Sportliche Leiter sind heute fahrende GPS-Geräte. Wenn nun aber aus jedem Auto 2000 Meter, 1000 Meter und 500 Meter vor jeder Kurve, Verengung und Brücke die gleichen Durchsagen in die Ohren geschickt werden, versuchen alle Fahrer gleichzeitig, sich in eine gute Position zu begeben. Just in diesen Momenten kommt es zu den Massenstürzen, die wir in den letzten Jahren in wachsender Anzahl erleben.

Funkverkehr gibt es nicht erst seit gestern. Haben sich die Verhaltensweisen der Sportlichen Leiter in den letzten Jahren verändert?
Der auf den Sportlichen Leitern lastende Druck ist höher geworden – vor allem an der Tour de France. Etwa drei Viertel der Einnahmen eines Teams werden an oder wegen der Tour generiert; da braucht es Erfolgserlebnisse.

Werden die Anliegen der Fahrer ernst genommen?
Sicher nicht im erforderlichen Mass; wir sind das schwächste Glied in der Kette. Manchmal kommst du dir vor wie das Äffchen im Zirkus. Vor ein paar Wochen, um ein aktuelles Beispiel zu nennen, fuhren wir an der Renewi-Tour auf Strassen, die mich an Kuhwege erinnerten. Die Folgen: Ellbogenbruch links, Schlüsselbeinbruch rechts, alle 200 Meter lag einer am Boden. Da muss demnächst etwas geschehen – das gilt übrigens auch für das Punktesystem.

Inwiefern?
Früher mussten die Top Ten auf der Zielgeraden Vollgas geben, der Rest rollte locker ins Ziel. Heute wird zum Teil noch um Platz 50 oder 60 gesprintet, weil selbst für diese Klassierungen Weltranglistenpunkte vergeben werden. Die Teams sind auf diese Punkte angewiesen, damit sie den World Tour-Status halten können. Das hat direkte Auswirkungen auf Taktik und Fahrweise.

Wie sieht das konkret aus?
Viele Team-Meetings werden heute nicht mehr mit Start und Ziel einer Etappe eröffnet. Oft geht es primär darum, wo wie viele Ranglistenpunkte vergeben werden. Aus diesem Grund fahren auch nicht mehr alle Teams auf Sieg. Das Ziel lautet dann beispielsweise, drei Athleten unter die Top 20 zu bringen. Das ist wie bei einem Eichhörnchen, welches bestrebt ist, möglichst viele Nüsse zu sammeln. Und es zielt am Publikum vorbei. Die Leute erinnern sich an Siege. Aber wer im Vorjahr in der Teamwertung die Ränge 4, 7 und 15 belegt hat, wissen selbst eingefleischte Fans nicht mehr.

Nun bist du 37-jährig, bald wirst du erstmals ein «normales» Leben führen. Hast du manchmal das Gefühl, etwas verpasst zu haben?
Nein, überhaupt nicht. Als ich in den Radsport kam, hatten wir Freiheiten, durften auch mal über die Stränge schlagen. Es gab sogar Rennen, bei denen wir jeweils vom «Holiday-Programm» sprachen. Gewannen wir etwas, wurde entsprechend gefeiert; diese Balance war für mich wichtig.

Wie sieht es denn heute aus?
Corona hat vieles verändert. Heute wird alles ausgereizt, das Niveau im Feld ist merklich höher als zuvor. Es gibt Performance-Coaches, Aero-Coaches, Ernährungsberater; überall wird optimiert. Dafür wird nach Siegen oft nicht mehr gefeiert; der Fokus richtet sich sofort auf das nächste Rennen. Roger Federer hat jüngst gesagt, bei der Professionalisierung des Sports sei der Spass auf der Strecke geblieben. Das würde ich unterschreiben.

Was wird sich an deinem Leben verändern, wenn das letzten Rennen vorüber ist?
Ich werde weiterhin so oft wie möglich auf dem Velo sitzen; ich liebe den Radsport. Gleichzeitig freue ich mich darauf, nicht mehr so müde Beine zu haben, wenn ich mit den Kindern spiele. Und dann freue ich mich auf das Skifahren. Risikosportarten durfte ich als Profi keine betreiben; ich hoffe, dass ich überhaupt noch Skifahren kann.

Dein Vater war Rennfahrer, nun hast du zwei Söhne. Wird sich die Geschichte wiederholen?
Der Grössere der Buben ist zweieinhalb Jahre alt und fährt gerne Laufrad. Pushen werde ich ihn sicher nicht. Wenn er Freude daran hat, ist es schön; ansonsten macht er etwas anderes.

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