Reportage
BMX-Fahren als Familientradition
In der Schweizer BMX-Szene kommt niemand an der Familie Claessens vorbei. Vincent Claessens, der als Wegbereiter dieser Sportart in der Schweiz gilt, und seine Kinder haben den BMX-Sport in ihren Genen. «Ready to Ride» hat sich mit dieser Familie getroffen, deren Mitglieder voller Leidenschaft und Wettkampfgeist BMX fahren.
Die ersten Sonnenstrahlen erhellen an diesem Februarmorgen die BMX-Piste von Echichens, die an einem Waldrandmitten auf dem Land im Kanton Waadt liegt. Noch herrscht völlige Stille. Das ländliche Idyll wird durch das Knirschendes Schotters unter den Reifen brutal aus seinem sanften Schlummer gerissen. Zoé ist gerade vom Starthügel losgefahren. Etwas weiter unten befindet sich Arthur in einer Kurve, während Bastien über einen Dreifachhügel springt. Inès und Jade trainieren unter dem aufmerksamen Blick von Vincent einen Hinterradsprung auf der Zielgeraden. «Ich fahre nicht mehr zusammen mit den Kindern, weil sie mich mittlerweile fast alle überholen würden», sagt der Vater der fünf jungen Athleten lachend. Bei den Claessens’ hat das BMX-Fahren Familientradition. Vom ältesten Sohn Bastien (22) bis zur jüngsten Tochter Jade (10) haben sich alle mit dem Virus infiziert – oder zumindest fast alle. Nur eine der Schwestern und die Mutter sind heute Morgen nicht auf der Piste. «Sprechen Sie sie besser nicht auf BMX an…», meint Vincent lächelnd. Seine ansteckende Begeisterung hat wesentlich zum Aufschwung dieser Sportart beigetragen. Der 51-Jährige gehört zu den Pionieren der Schweizer BMX-Szene.
Modell aus Pappmaché
Vincent Claessens ist seit seiner Kindheit ein Off road-Enthusiast und erinnert sich noch genau an diesen Schlüsselmoment, als er im Schaufenster eines Geschäfts in Morge sein BMX-Rad gesehen hat. Das war im Jahr 1980. «Das war eine der besten Begegnungen meines Lebens», hält er fest. Er hatte schon immer Spass daran, an Velos herumzubasteln und die Schutzbleche zu entfernen. Morges war eine Offenbarung für ihn. Mit 12 Jahren kratzte er mit seinem Bruder 365 Franken zusammen, um sich «dieses kleine Wunder» zu leisten. Sie traten zum ersten Mal in den Steinbrüchen und auf einer mit Freunden selbstgebauten Piste in Echichens in die Pedale. «Es war eher ein Waldweg mit erhöhten Kurven als eine echte Piste. Die Hügel waren kaum höher als 50 Zentimeter», sagt Vincent. Im Dorf ging das Gerücht um, es sei ohne Genehmigung eine Motocrosspiste gebaut worden. Die Stadtverwaltung traf sich im Wald, um die Schäden zu begutachten, und es wurde entschieden, die Piste wieder abzubauen. Vincent und seine Mitstreiter liessen sich aber nicht abschrecken: «Wir haben vor der Stadtverwaltung eine BMX-Show gemacht. Wir waren so sehr von unserem Projekt überzeugt, dass man uns im Gegenzug ein Grundstück anbot, um eine neue Piste zu bauen.»
« Wir waren rund zehn Mitglieder, die sich in unserem Garten trafen, um den Klub zu gründen. Wir hatten die Statuten des Judo-Klubs in Morges kopiert, weil einer von uns dort Mitglied war.»
So entstand 1983 unter der Leitung des damals 15-jährigen Vincent Claessens die erste «echte» BMX-Piste der Schweiz. «Ich hatte ein Modellaus Pappmaché gemacht», sagt er lächelnd, sich bestens daran erinnernd. Auch mehr als 35 Jahre später spürt man die Leidenschaft in seinen Worten. Noch im selben Jahr gründete er den ersten BMX-Klub der Schweiz in Echichens. «Wir waren rund zehn Mitglieder, die sich in unserem Garten trafen, um den Klub zu gründen. Wir hatten die Statuten des Judo-Klubs in Morges kopiert, weil einer von uns dort Mitglied war», erzählt Vincent.
Ein Pumptrack im Garten
«Vergesst nicht, vor dem Essen eure Velos sauberzumachen», sagt Vincent, die jungen Leute beim Ausladen der BMX-Räder aus dem Van an das Unvermeidliche erinnernd. «Die Kinder sind sehr selbstständig. Das liegt sicher daran, dass wir eine Grossfamilie sind.» Die ruhige Atmosphäre in der Umgebung bildet einen krassen Gegensatz zum lebhaften Treiben im grossen Haus der Familie Claessens, in dem mittlerweile zehn Personen leben. Neben den sechs eigenen Kindern hat das Paar zwei Kinder aus schwierigen Verhältnissen aufgenommen. «Wir wollten diesen benachteiligten Kindern die Chance geben, in einer richtigen Familie aufzuwachsen. Es ist auch eine Gelegenheit, unseren Kindern zu zeigen, welches Glück sie haben, dass es ihnen an nichts fehlt», hält Vincent fest. Obwohl sie ihre leiblichen Eltern regelmässig sehen, sind die vier- und fünfjährigen Buben heute ein fester Bestandteil des Familienlebens. Der Zusammenhalt zwischen den Geschwistern und ihren Gastbrüdern ist offensichtlich. «Es ist für alle sehr bereichernd», erklärt der Familienvater. Eine Grossfamilie braucht viel Platz, und so haben sich die Claessens in einem grossen Haus in Villars-sous-Yens in der Nähe von Morges niedergelassen. Und obwohl die Familie nun knapp zehn Kilometer von der Piste in Echichens trennen, bedeutet diese etwas grössere Entfernung in keinster Weise eine grössere Distanz zum BMX-Sport – im Gegenteil. Ein rascher Blick rund um das Haus erklärt alles. Rund 30Velos jeglicher Art lagern bei der Hütte am Ende des Wegs, während ein Pumptrack aus Lehm im Garten thront und ein Starthügel auf dem Garagendach eingerichtet wurde. «Das war das Erste, was wir gebaut haben, nachdem das Haus fertig war», sagt Vincent lachend.
Der Mann ist Unternehmer mit Leib und Seele; er scheint vor Ideen nur so zu sprühen. Im Jahr 2000 hatte er ein Patent für einen Kinderwecker eingereicht. Der Absatz belief Rad an Rad: Fünf der sechs Claessens-Kinder sind mit dem BMX-Virus infiziert. Der Absatz belief sich auf über eine Million Exemplare, bevor Vincent sein Unternehmen im vergangenen Jahr verkaufte. Auch die Schweizer BMX-Szene hat vollumfänglich von seiner Begeisterung und seinem Tatendrang profitiert. Unter seiner Führung fanden 1984 die ersten Schweizer BMX-Meisterschaften in Echichens statt. Zehn Jahre später übernahm er die Leitung des Klubs, dessen Präsident er 15 Jahre langbleiben sollte. 2005 stand er dem Organisationskomitee des EM-Finals in Echichens vor. Es ist seine Leidenschaft für BMX, die Vincent Claessens dazu bringt, sich ständig für die Weiterentwicklung seines Sports einzusetzen. Er ist selbst auch gefahren und war einer der ersten Schweizer, der sein Glück bei Rennen im Ausland versuchte. So nahm er 1983 an der ersten WM ausserhalb der USA in Holland teil. «Alle amerikanischen Profifahrer waren da. Sie hatten rund zehn Jahre Vorsprung auf die Europäer und liessen uns schlicht keine Chance. Als ich meinen Vater gefragt hatte, ob ich an diese WM fahren könne, hatte er mir gesagt, ich müsse teilnehmen, weil es sicher die letzte Gelegenheit für mich sein würde. Er rechnete kaum damit, dass ich 35 Jahre später immer noch dabei sein würde.» Mit 51Jahren fährt Vincent Claessens immer noch ganz oben mit, auch wenn er zugeben muss, dass die unzähligen Stunden im Sattel seinem Körper zugesetzt haben. So ist der Vollblutwettkämpfer 2017 und 2018 WM-Zweiter in der Kategorie «Challenge 50 Jahre und älter» geworden.
« Manchmal wetten wir, wer gewinnt »
Er ist es auch, der seine BMX- Leidenschaft an seine Kinder weitergegeben hat, obwohl er darauf besteht, dass er sie niemals gezwungen hat, diesen Sport auszuüben. «Das ist einfach ganz natürlich passiert. In Sportlerfamilien existiert einfacheine grosse Synergie», betont Vincent. Der Älteste, Bastien, hat mit drei Jahren angefangen, und dann nahm alles seinen Lauf. Auf die Frage, wie sie zum BMX gekommen sind, lautet die Antwort einhellig: «Ich habe es meinem Vater und meinen älteren Geschwistern gleichgetan.» Nur die 16-jährige Fanny schert aus der Familientradition aus und bevorzugt das Tanzen. «Das ist so viel schöner», sagt Fanny und gibt gleichzeitig zu, dass sie natürlich auch auf das BMX-Rad gestiegen ist, obwohl sie nie sehr viel Freude daran gefunden hat. Ihre beiden jüngeren Schwestern Inès (13) und Jade (10) versuchten es auch mit dem Tanzen, allerdings nur für kurze Zeit. «Das war mir zu klassisch, und es war einfach nicht schnell genug», meint Inès. Am Tisch drehen sich die Gespräche häufig um BMX. «Ich bin es gewohnt, das stört mich nicht», erklärt Fanny mit einem Schulterzucken. Für Mama Fabienne ist es wichtig, «dass alle Spass haben und unverletzt nach Hause kommen».
« Es ist wichtig, das alle Spass haben und unverletzt nach Hause kommen. »
Wenn BMX das zentrale Gesprächsthema ist, geht es natürlich vor allem um die Piste als bevorzugtes Betätigungsfeld dieser gemeinsamen Leidenschaft. «Wir motivieren uns gegenseitig, auf der Piste zu fahren», betont Arthur. Zoé schätzt ebenfalls diese stürmische Begeisterung. «Wenn wir zusammen auf der Piste sind, geben wir uns viele Ratschläge. Im Allgemeinen geben mir meine grossen Brüder Tipps, und ich helfe eher meinen kleinen Schwestern. Manchmal wetten wir, wer gewinnt … und ich verliere oft gegen meine Brüder», lacht sie, ohne sich zu grämen. Der Nachwuchs der Claessens hat sich im Übrigen bereits zahlreiche Auszeichnungen verdient. Bastien war Schweizer Juniorenmeister und auch bei Europacuprennen erfolgreich, während Arthur bei den letzten Schweizer Meisterschaften in der Elite-Kategorie hinter David Graf und Simon Marquart die Bronzemedaille gewonnen hat. Und die fast 18-jährige Zoé gehört bereits zu den besten Athletinnen der Welt in ihrer Altersklasse (siehe Infobox).Vincent Claessens verfolgt die Entwicklung seiner kleinen Meister aus der Nähe. «Ich hätte nie gedacht, dass meine Kinder einmal Meister werden. Aber jetzt, wo sie ein gewisses Niveau erreicht haben, berate ich sie, damit sie in ihrer Entwicklung nicht verheizt werden», gibt er zu. Um die Reisen dieser grossen Sportlerfamilie zu erleichtern, hat Vincent unlängst einen Van mit 14 Plätzen angeschafft. «Der Wagen ist nicht nur für BMX-Wettkämpfe da, sondern auch für unsere Familienferien», beschwichtigt Vincent. «Dieser Van ist ganz sicher nicht zu gross für uns, wenn wir alle zehn mit Gepäck und allen Velos einsteigen. Denn eines ist ja klar: Wir fahren nie ohne unsere Velos in die Ferien». BMX-Fahren hat tatsächlich Familientradition bei den Claessens.
Zoé hat das Triple im Visier
Zoé Claessens ist die aktuelle WM- Silber-Gewinnerin bei den Juniorinnen und hat für die bevorstehende BMX- Saison klare Ziele. Sie will um alle drei Titel als Schweizer-, Europa- und Weltmeisterin bei den Juniorinnen kämpfen. Ausserdem will sie an einigen Wettkämpfen der Weltcupsaison teilnehmen, die am Wochenende vom 27./28. April in Manchester beginnt. Mit gerade einmal 18 Jahren – ihr Geburtstag fällt genau auf dieses Wochenende – möchte sie mindestens einen Final in der Elite-Kategorie bestreiten, weil es im Weltcup keine Juniorinnen- Kategorie gibt. Und langfristig? «Mein Traum ist es, bei den Olympischen Spielen zu starten. Sollte Tokio 2020 noch etwas zu früh kommen, möchte ich 2024 in Paris dabei sein», erklärt die Waadtländerin, die von der Sporthilfe für den Titel der besten Nachwuchssportlerin der Westschweiz nominiert wurde.