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Interview

«Ninos Leistungswerte waren so gut wie noch nie»

«Vor Nino Schurter kann ich nur den Hut ziehen», Nationaltrainer Bruno Diethelm ist von Schurters stetigem Potential überzeugt. Bild: EGO-Promotion

Als Neunter verzeichnete Nino Schurter an der WM in Leogang sein schlechtestes WM-Ergebnis. Nationaltrainer Bruno Diethelm zeigt Verständnis und nennt Gründe. Für ihn ist der 34-jährige Bündner nach wie vor die Nummer 1.

Keystone-SDA: Bruno Diethelm, wie fällt Ihre Bilanz aus den Rennen in Nove Mesto und Leogang aus?

Bruno Diethelm: Zwiespältig. An unseren Auftritten in Nove Mesto hatte ich im Grossen und Ganzen ziemlich Freude. In der U23 waren im zweiten Rennen acht Schweizer in den Top 20 und im ersten zwei auf dem Podest. Bei den Männern hatte Nino Schurter im ersten Rennen keinen guten Start, fuhr dann aber richtig stark nach vorne und schaffte es mit einem unglaublichen Finale auf den 4. Platz. Im zweiten Rennen weiss ich nicht, ob man von einem Fehler reden kann, dass sich Schurter im Sprint um den Sieg im entscheidenden Moment in einer ungünstigen Position befand. Auch die Auftritte der anderen Schweizer stimmten mich zuversichtlich für die WM.

In Österreich war dann vieles ungewöhnlich.

Wir fanden ganz andere Bedingungen und eine ganz andere Strecke vor. Mit Ausnahme von Mathias Flückiger (2. Platz – die Red.) schaffte es im WM-Rennen keiner, eine super Leistung abzurufen. Die Bedingungen waren aber auch sehr schwierig, explosives Fahren war kaum möglich und das Überholen sehr schwierig.

«Das hatte mit Mountainbike nicht mehr viel zu tun.»

Es war kalt und der Boden sehr schlammig, die Verhältnisse an der Grenze des Regulären. Fiel die öffentliche Kritik so leise aus, weil man einfach froh ist, überhaupt Rennen fahren zu können?

Normalerweise hätte ich es als Tragödie für die Aussendarstellung unseres Sports empfunden. Jetzt waren wir alle dankbar, dass überhaupt jemand so kurzfristig eingesprungen ist. Wir hatten sogar noch Glück, dass der angekündigte Sturm erst nach dem Rennen kam. Zwei Tage vorher befürchtete ich ein absolutes Chaos. Auch die Fahrer meinten im Training, das habe mit Mountainbike nicht mehr viel zu tun. Die sich täglich ändernden Bedingungen, die vielen Anpassungen an der Strecke und das langwierige Prozedere mit den Corona-Tests und -Nachtests kosteten zusätzlich Energie.

Haben Sie sich mehr erhofft von den Schweizern?

Gemessen an den reinen Resultaten träumte ich von mehr. Als Schweizer sind wir sehr verwöhnt, mit Siegen und Titeln. Aber Sport beinhaltet mehr als Resultate. Mathias Flückiger hat mich beeindruckt, und vor Nino Schurter kann ich nur den Hut ziehen. Als achtfacher Weltmeister in den letzten beiden Runden um den 9. Platz zu kämpfen, als ginge es um den Titel, spricht für ihn. Er ist ein absolutes Vorbild.

Schurter ist 34. Offenbaren die jüngsten Resultate, dass seine Dominanz endet?

Mit Blick auf die nackten Resultate würde ich das fast sagen – wenn ich nicht gesehen hätte, wie fokussiert sich Nino auf Tokio vorbereitet hat und wie unglaublich parat er im Frühling war. Beim Leistungstest im Februar hatte er so gute Werte wie noch nie. In dieser Verfassung muss sich zuerst einer finden, der ihm Paroli bieten kann. Mit welcher Energie und Akribie er auf ein bestimmtes Ziel hinarbeitet, ist einmalig. Dass der Fokus mit der Verschiebung der Olympischen Spiele ins nächste Jahr nicht mehr ganz der gleiche war, kann ich ihm nicht zum Vorwurf machen. Das ist völlig normal.

Im ewigen Nationenduell meldete sich Frankreich zurück. Warum sind die Franzosen nach der langen Corona-Pause so gut?

Ich weiss es auch nicht. Sie fuhren wirklich stark und machten definitiv einen Schritt nach vorne – beeindruckend. Bei ihnen ist es wie bei uns: Sie haben ein kompaktes Team, und interner Druck wirkt sich positiv auf die Leistung aus.

Nino Schurter fuhr an den Weltmeisterschaften in Leogang auf Rang 9. Bild: EGO-Promotion

Mit dem Niederländer Milan Vader und dem Dänen Simon Andreassen mischten auch zwei Junge ganz vorne mit. Was war für Sie die grösste Überraschung?

Die kompakte Leistungsdichte in Nove Mesto. So viele Fahrer klassierten sich innerhalb von zwei Minuten, jeweils etwa 20. Ich glaube, das werden wir künftig öfter sehen. Die Spitze ist noch näher zusammengerückt. Die Jungen bringen eine Unbekümmertheit mit, die mir gefällt. Sie fahren mutig und fürchten sich nicht davor, dass es nicht aufgehen könnte.

Jolanda Neff einbezogen, waren mehrere Schweizer Leader gesundheitlich angeschlagen. Haben Sie eine Erklärung?

Die hohe Belastung mit den vier wichtigsten Rennen innerhalb von vier Wochen spielt sicher eine Rolle. Hinzu kommt das ständige Hin und Her, die Ungewissheit und Unsicherheit mit der sich laufend ändernden Corona-Situation. Auch die Tests mit teils längeren Wartezeiten in der Kälte beeinträchtigen die Routine. Ein Professor für Immunologie hat mir einmal gesagt, Stress sei der wesentlichste Faktor für ein geschwächtes Immunsystem.

Jolanda Neff erwähnte auch den Einfluss der Milz auf das Immunsystem. Könnte das längerfristig ein Problem sein für sie nach dem Milzriss im Dezember letzten Jahres?

Das können nicht einmal die Ärzte abschätzen. Ihre Milz hat sich eigentlich sehr, sehr gut erholt. Grundsätzlich glaube ich, dass unser Körper erstaunlich viel wegstecken kann.

«Mit welcher Energie und Akribie Nino auf ein bestimmtes Ziel hinarbeitet, ist einmalig.»

Nun folgt die EM im Tessin. Haben die Schweizer einen Heimvorteil?

Sicher kennen sie die Strecke vom Swiss Cup sehr gut. Und 99 Prozent von ihnen sagen, es sei eine der schönsten innerhalb der nationalen Rennserie. Sich auf ein Rennen zu freuen und die Strecke zu kennen hilft sehr.

Die wärmeren und trockeneren Verhältnisse kommen auch Schurter entgegen.

Absolut. Zu rutschigem Boden passt seine Fahrtechnik nun mal nicht ganz so gut, das ist so. Auch hat er lieber wärmere Temperaturen.

Wie wichtig wäre es für ihn, die Saison an der EM mit einem Erfolgserlebnis abzuschliessen?

Er weiss bestimmt auch ohne Sieg, was er zu tun hat und wie die Dinge einzuschätzen sind. Sicher wird er aber alles daran setzen, zum ersten Mal bei der Elite im Trikot des Europameisters fahren zu können.

sda
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