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Sportwissenschaft

Auf der Jagd nach verlorenen Sekunden: Die Wissenschaft im Dienst der Leistung

Eine Expertin der britischen Firma AeroCoach perfektioniert im Auftrag von Swiss Cycling die aerodynamische Position von Claudio Imhof (rechts Nationaltrainer Daniel Gisiger) Bild: Swiss Cycling

Wissenschaftler sind aus dem Sport nicht mehr wegzudenken. Hochleistungsmaterial, modernste Trainingsmethoden und perfekte Ernährung – sämtliche Faktoren, welche die sportliche Leistung beeinflussen können, werden getestet und optimiert. Auch Swiss Cycling ist in diesem Bereich äusserst aktiv, um seinen Athletinnen und Athleten optimale Voraussetzungen zu bieten.

Das 150 km südwestlich von Tokio gelegene Izu Velodrome war Schauplatz spektakulärer Leistungen. Mehrere Olympia- und Weltrekorde wurden hier pulverisiert. In jenen Disziplinen, in welcher der Sieg über die beste Zeit führt, stellten Frauen und Männer sechs neue olympische Bestmarken auf – darunter vier Weltrekorde. Auch das Schweizer Team erzielte jene Bestleistung, welche es sich vor den Olympischen Spielen zum Ziel gesetzt hatte. Mit der Zeit von 3:49,111 Minuten sorgte der Bahnvierer bei der 4000-Meter-Mannschaftsverfolgung für einen neuen Landesrekord.  

Mit dieser Zeit hätte das Quartett von Swiss Cycling an den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro locker die Goldmedaille gewonnen. Gold ging seinerzeit an das britische Verfolgerteam um Bradley Wiggins mit einer Zeit von 3:51,943. In diesem Jahr in Tokio absolvierten die Olympiasieger aus Italien das Rennen in der neuen Weltrekordzeit von 3:42,032 – fast zehn Sekunden schneller als die Briten fünf Jahre zuvor. Wie sind derart unglaubliche Leistungssteigerungen zu erklären? Gewiss waren die Rahmenbedingungen in Izu mit der eher schnellen Bahn günstig. Doch erst ein Exkurs in die Sportwissenschaften ermöglicht, das Phänomen umfassend zu entschlüsseln. 

«Der Radsport ist aus wissenschaftlicher Sicht ein simpler Sport, weil es weniger Interaktionen als in Sportarten wie Fussball gibt. Inzwischen lassen sich praktisch alle Faktoren einer Leistung messen.»

Lucas Schmid

Kleine Gewinne ermöglichen Quantensprünge

Die bei den Olympischen Spielen reihenweise geknackten Rekorde zeugen von der globalen und allgemeinen Weiterentwicklung der sportlichen Leistung. Die konstante Verbesserung der körperlichen Fähigkeiten der Athletinnen und Athleten führt zu einer Leistungsverdichtung. «Die Athletinnen und Athleten spezialisieren sich immer mehr in ihrer jeweiligen Disziplin», hält Lucas Schmid, Sportwissenschaftler bei Swiss Cycling, fest. «Diese Spezialisierung erfolgt mit Blick auf alle Leistungsfaktoren, d. h. in morphologischer, physiognomischer und anatomischer Hinsicht. Das Paradebeispiel ist Basketball. Wer hier nicht mindestens zwei Meter gross ist, hat praktisch keine Chance, höchstes Niveau zu erreichen. Diese Spezialisierung führt dazu, dass sich das Gefälle zwischen den Athletinnen und Athleten verringert.»  

Das Einzelzeitfahren der Männer bei den Olympischen Spielen verdeutlicht diese Entwicklung geradezu exemplarisch. Hinter Olympiasieger Primož Roglič entschieden nur wenige Sekunden über Silber und Bronze. Zwischen dem zweit- und dem fünftplatzierten Fahrer lagen gerade mal fünf Sekunden. Stefan Küng verpasste den Sprung aufs Treppchen nur knapp, denn von der Bronzemedaille trennten ihn in dem beinahe einstündigen Rennen ganze vier Zehntelsekunden. Dass die Sportlerinnen und Sportler leistungsmässig immer näher zusammenrücken, zwingt sie zu einer Verbesserung aller entscheidenden Faktoren, um Sekunden, ja sogar Zehntelsekunden zu gewinnen.  

Bei dieser Suche nach Perfektion helfen die Wissenschaften. Von Trainingsmethoden über Ernährung und Material bis hin zur mentalen Leistungsfähigkeit decken Sportwissenschaften ein breites Spektrum ab. Ihre Bedeutung für die sportliche Leistung ist in den letzten Jahren erheblich gestiegen. Der Begriff der «marginal gains» oder der «kleinen Gewinne» wurde in den letzten zehn Jahren schlagartig zum medialen Leitbegriff. Die insbesondere vom britischen Radsportteam Sky geprägten «kleinen Gewinne», mit denen durch Verbesserung von Kleinigkeiten einige Hundertstel gewonnen werden sollen, beruhen auf dem Postulat «small gains produces big results» (etwa: kleine Gewinne ermöglichen Quantensprünge).  

Tatsächlich hat sich der Radsport inzwischen zu einem der bevorzugten Experimentierfelder der Sportwissenschaftler entwickelt. «Der Radsport ist aus wissenschaftlicher Sicht ein simpler Sport, weil es weniger Interaktionen als in Sportarten wie Fussball gibt. Inzwischen lassen sich praktisch alle Faktoren einer Leistung messen. Man kann problemlos aufzeigen, dass eine Massnahme X die Wirkung Y erzielt», erläutert Lucas Schmid, der seit 2017 mit dem Schweizer Radsportverband an wissenschaftlichen Projekten arbeitet. 

Erkenntnisse koordinieren und weitergeben

Sportwissenschaften können sich auf verschiedene Leistungsfaktoren auswirken. Unter anderem ermöglichen sie, die Trainingsmethoden anzupassen und zu optimieren. Die Athletinnen und Athleten der Swiss Cycling-Kader absolvieren zweimal pro Jahr in Magglingen Leistungstests, mit denen sich im Anschluss die optimalen Trainingsmethoden ermitteln lassen. Die Erkenntnisse der Wissenschaftler betreffen auch unmittelbar den Körper der Athletinnen und Athleten. Swiss Cycling arbeitet seit 2019 mit der Sporternährungswissenschaftlerin Joëlle Flück zusammen. Im Vorfeld der Olympischen Spiele in Tokio war der Schweizer Radsportverband intensiv bemüht, die Organismen seiner Athletinnen und Athleten auf die besonderen, von Hitze und Feuchtigkeit geprägten Bedingungen in Tokio vorzubereiten.  

Über Sportpsychologie setzen Sportwissenschaften auch am mentalen Bereich an. Ein Athlet, der weiss, dass er einen schnelleren Pneu hat als sein Konkurrent, kann auf mentaler Ebene im Vorteil sein. Entscheidenden Einfluss auf die sportliche Leistung hat schliesslich die Wahl des Materials. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind unentbehrlich, um die Form oder die Beschaffenheit der verschiedenen Ausrüstungen zu ermitteln, sodass die beste Aerodynamik gewährleistet ist. In diesem Bereich arbeitet Swiss Cycling eng mit seinen Partnern zusammen. So wird beispielsweise gemeinsam mit Assos die Trikotstruktur optimiert.  

Die wissenschaftlichen Tests münden in Ergebnisse, die richtig ausgelegt und auf die Athletinnen und Athleten übertragen werden müssen. Diese Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse stellt den entscheidenden Aspekt im Rahmen dieses Prozesses dar. «Das gewonnene Know-how muss selbstverständlich direkt auf die Athletinnen und Athleten übertragen werden. In dieser Phase ist eine umfassende Koordinierung mit den Teams der Athletinnen und Athleten sowie mit ihren Trainern und ihren Mechanikern erforderlich», betont Lucas Schmid, der andeutet, dass in diesem Bereich noch Verbesserungspotenzial besteht. «Um den Nutzen der Tests zu maximieren, müssen das Wissen direkt in die Ausbildung der Trainer einfliessen und bis zu den lokalen Strukturen weitergegeben werden.» 

«Unabhängig von der Sportart wird zumeist versucht, Widerstände zu verringern. Ob auf der Bahn oder auf der Strasse; es soll vor allem der Luftwiderstand sinken.»

Lucas Schmid

Computer und Messgeräte werden im Umfeld von Sportanlagen immer häufiger eingesetzt.

Aerodynamik und ein bisschen Kinesiologie

Swiss Cycling intensiviert seine Bemühungen im sportwissenschaftlichen Bereich seit rund zehn Jahren. In diesem Rahmen hat der Verband bei mehreren Projekten eng mit dem Bundesamt für Sport (BASPO) zusammengearbeitet. In den letzten Jahren wurden für verschiedene Tätigkeitsfelder des Verbands mehrere Mitarbeitende mit umfassendem wissenschaftlichem Hintergrund rekrutiert. Beispiele sind der Ausbildungsverantwortliche Lucas Schmid, aber auch Leistungssportchef Beat Müller und der Ausbildungsverantwortliche Jugend+Sport, Julien Bossens. Ebenso verfügen die beiden Bahn-Nationaltrainer Mickael Bouget und Scott Bugden über fundierte wissenschaftliche Kenntnisse. 

Dank dieser Kompetenzen führte Swiss Cycling zahlreiche Tests in verschiedenen Disziplinen durch. «Zunächst geht es darum, eine spezifische Analyse der Disziplin durchzuführen, in deren Rahmen alle leistungsentscheidenden Faktoren berücksichtigt werden. Im Folgenden wird beurteilt, wie wertvoll der Beitrag der Wissenschaft ist. Besteht die Meinung, dass der Effekt gross genug ist, wird investiert», führt Lucas Schmid aus.  

Bei den Tests geht es häufig um einen besonderen Faktor, der verbessert werden soll. «Unabhängig von der Sportart wird zumeist versucht, Widerstände zu verringern. Ob auf der Bahn oder auf der Strasse; es soll vor allem der Luftwiderstand sinken. Folglich arbeiten wir an der Aerodynamik. Beim Mountainbiken ist das Tempo geringer. Also konzentrieren wir uns hier auf den Rollwiderstand», konstatiert der 35-jährige Sportwissenschaftler. 

Jede Radsportdisziplin hat ihre Besonderheiten. Dennoch ist es möglich, mit den gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnissen Synergien zu bilden. Beispielsweise macht der Luftwiderstand beim Zeitfahren rund 90% des gesamten Widerstands aus. Da lohnt es sich, an der Aerodynamik zu arbeiten. Daneben beeinflussen noch andere Faktoren wie der Rollwiderstand die Leistung. Folglich werden die Ergebnisse der Pneutests mit Mountainbikefahrerinnen und -fahrern in dieser Phase angepasst, um die Leistungen der Zeitfahrspezialisten zu steigern. 

Die durch Sportwissenschaften ermöglichten Gewinne sind nicht immer nur marginal. So hat sich bei einem Aerodynamiktest mit einem Bahnfahrer gezeigt, dass eine optimierte Aerodynamik die Leistung gegenüber einer Standardposition um 6% verbessern kann. Auf eine Distanz von 4000 Metern hochgerechnet beträgt dieser Gewinn 5.2 Sekunden. Ein derart hoher Zeitgewinn lässt sich mit einem reinen Standardtraining kaum erzielen. 

Bleibt die Frage, welche Rolle die Sportwissenschaften bei den sechs Olympiamedaillen spielten, die Swiss Cycling in Tokio gewann. Derartige Berechnungen will niemand anstellen. Sicher aber ist, dass die aerodynamische Position Marlen Reussers beim Zeitfahren dazu beitrug, ihr die Silbermedaille zu bescheren. 

Lucas Schmid

Der Sportwissenschaftler ist bei Swiss Cycling als Ausbildungsverantwortlicher und wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig.

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