Tour de France
Schär: „Noch nervöser geht eigentlich gar nicht“
Michael Schär (hier an der WM 2019 in Yorkshire): „Die Fahrergewerkschaft CPA funktioniert nicht. Sie hat null Einfluss, null Power und auch kein Gesicht.“ Bild: frontalvision.com
Michael Schär bestreitet ab Samstag seine zehnte Tour de France in Folge. Der 33-jährige Luzerner spricht im Interview mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA unverblümt über die Rennorganisatoren, die mit der Gesundheit der Fahrer spielen, über seine trotzdem unverändert grosse Lust am Leben als Radprofi und über seine Rolle in den kommenden drei Wochen in Frankreich.
Sie feiern am Samstag mit Ihrer zehnten Tour-Teilnahme ein Jubiläum. Mit welchem Gefühl sind Sie nach Frankreich gereist?
Michael Schär: Für mich ist die Tour auch nach so vielen Jahren noch speziell. Ich empfinde es als Ehre, beim Grand Départ in Nizza dabei zu sein. Im Gegensatz zu sonst wird es jedoch kein Einrollen mit einem Prolog oder Flachetappen geben. Dieses Jahr geht es gleich in die Berge. Da muss man von Anfang an voll bereit sein.
Auf den vielen tausend Kilometern durch Frankreich haben Sie einiges erlebt. Was ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Natürlich die Premiere. 2011 gewannen wir vom Team BMC mit Cadel Evans die Tour. Danach ist uns dies leider nie mehr gelungen. Auch die Mannschaftszeitfahren, in welchen BMC zweimal gewinnen konnte, empfand ich als Highlights. Als ganzes Team auf dem Podest zu stehen, und einer deiner Teamkollegen übernimmt das Gelbe Trikot: Das sind schöne Erinnerungen.
Und persönlich?
Die Erfahrungen in den Spitzengruppen im letzten Jahr waren cool. Mal selber versuchen, als Ausreisser zu einem Erfolg zu gelangen. Leider hat es noch nicht geklappt. Aber ich werde es wieder versuchen.
Wie sieht Ihre Rolle in den kommenden gut drei Wochen aus?
Früher sind wir mit BMC um den Gesamtsieg und um Etappenerfolge gefahren. Nun, mit CCC, ist die Ausgangslage anders. Wir haben mit Greg van Avermaet und Matteo Trentin nur zwei Fahrer, die Etappensiege einfahren können. Sie sind sogenannte Puncher, und für diese Art Fahrer gibt es wohl vier, fünf Gelegenheiten. In diesen Etappen muss ich Greg und Matteo so gut wie möglich unterstützen. An den anderen Tagen hingegen habe ich freie Hand. Da kann ich am Ende des Feldes fahren und Energie sparen – oder Fluchten planen.
„Ich hoffe ganz fest, dass die ASO uns Fahrern anständige Strassen präsentieren wird“
Erwarten Sie, dass bei der Tour noch nervöser als in den vergangenen Jahren gefahren wird?
Noch nervöser geht eigentlich gar nicht. Es war schon in der Vergangenheit am obersten Limit. Vielleicht ist es aber auch so, dass ich älter werde und all die Gefahren und Stürze anders wahrnehme als früher. Ich hoffe jedoch ganz fest, dass die ASO (die Tour-Organisatorin; die Red.) zur Vernunft gebracht und uns Fahrern anständige Strassen präsentieren wird.
Was beim ebenfalls von der ASO organisierten Critérium du Dauphiné nicht durchwegs der Fall war.
Das war sogar höchst prekär. Da fuhren wir teilweise auf kleinsten Kuhwegen. Das war extrem gefährlich und führte zu vielen Stürzen, auch von Tour-Favoriten. Das kann nicht im Sinne der Sache sein. Es gilt, den stärksten Fahrer zu finden, dieser soll die Rundfahrt am Ende gewinnen – und nicht ein anderer, der von den zahlreichen Stürzen profitiert.
Es gab zuletzt weitere Beispiele von schlechten Strassenverhältnissen in der Lombardei-, Polen- und Wallonien-Rundfahrt. Spielen die Organisatoren grundsätzlich mit der Gesundheit der Radprofis?
Schwierig zu beurteilen, ob es nur die Organisatoren sind. Oder liegt der Fehler nicht auch bei der UCI? Der Weltverband steht auch in der Verantwortung, schliesslich homologiert er diese Routen. Aus meiner Optik inspizieren die UCI-Vertreter die Strecken, bevor sie ihr Okay geben, nicht gut genug.
Können sich die Fahrer nicht wehren?
Die Fahrergewerkschaft CPA funktioniert nicht. Sie hat null Einfluss, null Power und auch kein Gesicht. Selbst wir Fahrer wissen nicht genau, wer unsere Ansprechperson ist. So stehen wir auf verlorenem Posten. Wir haben es mit Protesten und Streiks versucht, setzten auch bei der letzten Dauphiné-Etappe ein Zeichen.
Da fuhr das Fahrerfeld die erste prekäre Abfahrt direkt nach dem Etappenstart neutralisiert und legte unten noch einen kurzen Stopp ein. Wie reagierte die ASO?
Ich bezweifle, dass das bei den wichtigen Akteuren wie der ASO wirklich ankommt. Die können machen, was sie wollen. Ihnen geht es ums Business, und dabei gehört das Hauptaugenmerk sicher nicht den Fahrern und deren Sicherheit. Dabei könnte man mit Auffangnetzen, Abschrankungen und Gittern doch einiges mehr machen. Nun habe ich aber wirklich das Gefühl, dass nach allem, was jetzt passiert ist, sich etwas ändern muss.
Zusammen mit Greg van Avermaet, dem Olympiasieger von Rio de Janeiro, wechseln Sie Ende Saison für drei Jahre zum französischen Team AG2R. Sie scheinen trotz allem auch mit bald 34 Jahren keine Rad-Müdigkeit zu verspüren?
Absolut nicht. Ich gehe immer noch jeden Tag gerne draussen auf dem Rad trainieren. Auch die Rennen bereiten mir weiterhin viel Spass. Greg und ich sind zudem seit vielen Jahren gute Freunde, wir sind wohl seit zehn Jahren zusammen im Zimmer. Das wird nun auch die nächsten drei Jahre bei AG2R so sein, die ein cooles Projekt für die Klassiker und generell für Eintagesrennen haben.“
Interview: Keystone-SDA