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Camille Balanche

„Mein Umfeld und meine Lebensentscheidungen haben meine Karriere geprägt“

Die Downhill-Weltmeisterin im hart umkämpften Regenbogentrikot. Bild: Jay Crunch

Die Schweiz gehört zu den weltweit führenden Mountainbikenationen. Der Titelgewinn von Camille Balanche an der WM 2020 in Leogang jedoch kam einer grossen Überraschung gleich; es ist der erste Triumph einer Schweizer Downhillerin in der Geschichte. Die 31-jährige Neuenburgerin zu ihrem ungewöhnlichen
sportlichen Werdegang, zur Rolle ihrer Lebenspartnerin Emilie Siegenthaler und zu den Eigenheiten der Downhill-Szene.

Wie lange hast du gebraucht, um den Gewinn des Weltmeistertitels zu verarbeiten?

Ich gebe zu, dass das ziemlich lange gedauert hat. Nach meinem Titelgewinn überstürzten sich die Ereignisse, so- dass ich die Eindrücke nicht wirklich setzen lassen konnte. Nach der Saison hingegen konnte ich mir die Zeit nehmen, das Geschehene Revue passieren zu lassen. Allerdings stehe ich immer noch regelmässig

Also hast du das Original-Regenbogentrikot behalten?

Das hängt über meinem Bett. Emi (Emilie Siegenthaler; die Red.) hat es mir zusammen mit der Goldmedaille eingerahmt.

Bestimmt willst du es die ganze Zeit tragen…

Ich bekam letztes Jahr nur zwei davon, also zog ich es nur für die Rennen an. Jetzt hat mir der Sponsor meines Teams 50 Nachbildungen zum Verteilen geschenkt. Davon habe ich praktisch keine mehr … Ich gestehe aber, dass ich mich etwas geniere, mein Weltmeistertrikot hier in Biel zu tragen.

Denkst du manchmal wieder an jenen Moment, in welchem du im Zielgelände von Leogang Weltmeisterin wurdest?

Ziemlich oft. Aber wenn ich mir das in Erinnerung rufe, blende ich die negativen Aspekte wie die Kälte aus. Ich bewahre nur die schönen Erinnerungen auf. Schade ist nur, dass keine Zuschauer vor Ort waren.

Am Abend deines Titelgewinns nach einem Interviewmarathon hattest du gesagt, dassdu nun verstehen würdest, was Jolanda Neff jeweils durchmacht. Fühlt es sich bei dir immer noch so an?

(lacht)… Nein, mittlerweile haben sich die Wogen geglättet. Mir ist aufgefallen, dass die Medienanfragen häufig alle gleichzeitig kommen. Ich musste lernen Nein zu sagen.

Wie hast du dieses plötzliche Medieninteresse erlebt?

Es war zugegebenermassen etwas viel. Wegen der Pandemie mussten wir nach den Weltmeisterschaften gleich vier Weltcuprennen in Folge in Maribor und Lousã bestreiten. Sich wieder auf die Rennen zu konzentrieren, war extrem schwierig. Ich war mental ausgebrannt.

Waren das die Nachwirkungen der titelbedingten Emotionen?

Bis zum Ende der Saison war ich im Überlebensmodus. Ich wollte eigentlich gar nichts mehr reissen. Die Verhältnisse in Maribor waren fürchterlich. Es war kalt, es schneite, und in unserem Appartement war es stockdunkel. Da verliess ich den Frühstückstisch schon mal mit Tränen.

In der Schweiz steht Downhill in der Mountainbikeszene im Schatten von Cross-Country. Denkst du, dass dein Titel der Disziplin einen Schub verleiht und hilft, das Verhältnis ausgeglichener zu gestalten?

Ich bin nicht sicher, dass mein Titel ausreichen wird. Es geht jetzt darum, weiterhin aufs Podest zu kommen. Eine einzige Athletin reicht kaum, um echte Begeisterung auszulösen. Dazu müssten jetzt auch die Männer entsprechende Ergebnisse erreichen. Im Cross-Country gibt es ja nicht nur Jolanda Neff. Sie ist von zahlreichen Athletinnen und Athleten umgeben, die ebenfalls hervorragende Leistungen erbringen können. Nach meiner Einschätzung spielt auch das Kriterium Olympia eine wichtige Rolle und führt dazu, dass Cross-Country beliebter bleiben wird. Mein Titelgewinn trägt aber sicherlich dazu bei, den Jungen in unserer Disziplin wieder etwas Hoffnung zu machen.

Vor deiner Downhill-Karriere hast du dich in unterschiedlichs- ten Sportarten wie Fechten, Leichtathletik, Volleyball und Eishockey versucht. Und in jeder Sportart warst du in gewisser Hinsicht erfolgreich. Woher hast du dieses Talent als Allroundsportlerin?

Ich komme aus einer sportlichen Familie (Vater Gérard Balanche war Schweizer Meister im Skispringen; die Red.). Auch meine Schwester war sehr sportlich, und weil sie zehn Jahre älter ist, musste ich mich anstrengen, um mit ihr mitzuhalten. Ich erinnere mich auch an meine Primarschulzeit in schöner ländlicher Umgebung. Im Winter fuhren wir in jeder Pause mit dem Bob, wir spielten Fussball und betrieben andere Sportarten. Aber es stimmt schon – mir fiel generell immer alles leicht.

Kannst du diese Leichtigkeit im Sport näher erläutern?

Ich bin ein sehr visueller Mensch. Wenn ich eine Bewegung sehe, kann ich sie sehr schnell nachmachen. Allerdings habe ich keine Geduld. Ich setze immer alle Hebel in Bewegung, um etwas schnell zu können, sonst werde ich verrückt. Kann ich es nicht, rege ich mich auf, und ich versuche es immer wieder, bis es klappt (lacht).

Stellst du sehr hohe Ansprüche an dich?

Nach einem Rennen bin ich selten mit mir zufrieden. Ich konzentriere mich stets auf das, was ich verbessern kann.

Wie beurteilst du rückblickend deine verschiedenen sportlichen Erfahrungen? Eher als Abfolge kurzer sportlicher Episoden oder als kontinuierliche Entwicklung?

In meinem Leben folgte alles auf natürliche Weise aufeinander – je nachdem, in welcher Phase ich mich gerade befand. Mit Eishockey begann ich, weil ich in La Chaux-de-Fonds und damit einer eishockeybegeisterten Stadt lebte. Als ich aufgrund meines Studiums umzog, hörte ich mit der Sportart auf. Es war aber nicht so, dass mir Eishockey keinen Spass mehr machte. Dann fing ich in Biel mit Volleyball an, weil eine Freundin Volleyball spielte. Doch bald musste ich wegen einer Verletzung am Halswirbel aufhören, weil ich meinen Arm nicht mehr heben konnte. Anschliessend kam ich in Kontakt mit Radsportlern und schloss mich ihnen an. Jeder fragt mich, welche Sportart ich als nächstes in Angriff nehmen werde. Diese Frage nervt mich. Ich habe eine Sportart noch nie gewechselt, um etwas anderes zu machen oder irgendwo anders die Beste zu sein. Es sind mein Umfeld und meine Lebensentscheidungen, die meine sportliche Karriere geprägt haben.

Zum Downhill bist du durch deine Lebenspartnerin und mehrfache Schweizer Meisterin Emilie Siegenthaler gekommen. Erkläre uns, welche Rolle sie für deine Entwicklung gespielt hat.

Zuerst hat sie bei mir die Freude an dieser Sportart geweckt. Bevor ich mit Downhill anfing, war ich mehr im Enduro zu Hause. Ich war schlecht in den Steigungen, machte aber in den Abfahrten wieder Boden gut. Als Aussenstehende kamen mir die Downhiller immer verrückt vor! Daher war es super, dass mich Emilie schrittweise an diesen Sport herangeführt hat. Sie hat mir gesagt, welches Rad ich kaufen und welche Rennen ich bestreiten muss. So landete ich ganz schnell im Weltcup.

Inwiefern hat dir ihre Erfahrung sonst noch geholfen?

Weil sie seit mehr als zehn Jahren im Weltcup aktiv ist, hat sie mir viele Erfahrungen erspart, die ich sonst selbst hätte machen müssen. Und weil ich ehrgeizig bin, wollte ich gleich schnell wie sie vorankommen. Um sich in einer Sportart zu verbessern, sollte man mit jemandem trainieren, der besser ist als man selbst, aber kein unerreichbares Level besitzt.

Downhill entscheidet sich vorwiegend im Kopf. Hat Emilie dir auch in mentaler Hinsicht geholfen?

Sie ist nicht umsonst Psychologin (lacht). Sie hat immer die richtigen Worte parat. Von Anfang an hat sie mir klargemacht, dass sie Vertrauen in mich hat. Sie hat zuerst gesehen, dass ich Potenzial habe. Am Morgen des Finales der Weltmeisterschaften gingen wir zusammen einen Kaffee trinken. Da hat sie mir gesagt, dass die Wettkampfbedingungen auf mich zugeschnitten seien und ich gewinnen würde.

Zusammen im Leben – Konkurrentinnen im Sport. Ist dieser Spagat nicht ein bisschen schwierig?

Am Anfang war es eher sie, die mir half. Im Laufe der Zeit entwickelte sich aus der Hilfe ein Austausch, weil ich nun ebenfalls in der Lage war, gewisse Sachen einzuschätzen und meine Ansichten zu vertreten. Wir ergänzen uns gut. Mir gefällt es, wenn es offen ist und schnell geht, während sie eher technischere Passagen bevorzugt. Folglich motivieren wir uns gegenseitig. Wenn eine von uns einen Sprung macht, dann will es die andere auch versuchen.

Eine solche Bindung ist ein ganz schöner Vorteil gegenüber euren Konkurrentinnen…

Beim Downhill macht es in der Tat einen Riesenunterschied, wenn man vor einem Rennen zu zweit trainieren kann. Beispielsweise kannst du vergleichen, welche Linie die schnellste ist. Eine solche Beziehung kannst du nicht mit jedem aufbauen. Emilie und ich lieben uns und sind daher

immer ehrlich miteinander. Andere Konkurrenten hingegen tricksen schon mal und fahren auf einer Linie beispielsweise langsamer.

Sind solche Spielchen gang und gäbe beim Downhill?

Ja, insbesondere bei den Männern. Manche gehen sogar so weit, ihre Trainingslinien in sozialen Netzwerken zu posten. So sollen alle glauben, dass das die schnellsten Linien sind, obwohl sie dann im Rennen eine andere wählen (lacht).

Man hat das Gefühl, dass du dir im Downhill-Universum deinen Platz geschaffen hast . . .

Diese Welt passt sehr gut zu mir. Die Leute dort sind cool und offen. Wir können hart trainieren, aber die Fünf auch mal gerade sein lassen.

Downhill strahlt häufig etwas mehr Lockerheit aus als Cross-Country. Spiegelt dieser Eindruck die Realität?

Die Downhill-Welt ist sicherlich weniger steif als jene im Cross-Country. Aber die Disziplin ist in den letzten Jahren deutlich professioneller geworden. Früher machten die Athleten immer Party. Damit ist es jetzt vorbei. Aber der Sport hat schon eine lockere Seite, wir sind fast alle Freunde. Vielleicht hängt das auch damit zusammen, dass wir nacheinander starten, während die Athleten beim Cross-Country das ganze Rennen über Seite an Seite kämpfen.

Welche Ziele hast du als amtierende Weltmeisterin?

Der Titel verschafft mir noch mehr Motivation, meine bisherige Linie weiterzuverfolgen. Nach meiner Einschätzung habe ich noch nicht das Level der Top-Athletinnen erreicht. Also werde ich versuchen, den Rückstand Schritt für Schritt aufzuholen. Bisher bin ich nur selten in allen Passagen Risi-ken eingegangen. Folglich muss ich lernen, meine Grenzen ein wenig mehr auszuloten. Dafür muss ich diese Risiken zunächst mental akzeptieren und dann genau wissen, wann ich sie eingehen muss. Ich hoffe, dass mir dies ermöglichen wird, bald mein erstes Weltcuprennen zu gewinnen.

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