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Marc Hirschi

„Jeder wird seine Chance erhalten“

Aufstrebendes Talent: Marc Hirschi hat im letzten Jahr auf der World Tour debütiert und gleich Podestplätze erreicht. Bild: Arne Mill

Marc Hirschi startet am 1. August am Eintagesrennen Strade Bianche, welches gleichbedeutend mit der Wiederaufnahme der World-Tour-Saison nach über viermonatiger Corona-Pause ist. Ende August wird er mit der Tour de France seine erste dreiwöchige Rundfahrt bestreiten. Der 21-jährige Berner vom deutschen Team Sunweb spricht im Interview mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA über seinen Formstand vor dem Neustart, seinen wahr gewordenen Traum und sagt, warum er nicht an der Hüfte operiert worden ist.

In wenigen Tagen geht es los. Was für Gedanken gehen Ihnen durch den Kopf?
Marc Hirschi: Die Vorfreude ist gross. Ich konnte gut trainieren und habe das Gefühl, dass ich parat bin.

Wie und wo haben Sie die letzten Wochen trainiert?
Bis vor drei Wochen war ich immer zu Hause. Danach gingen wir mit dem Team nach Kühtai in Österreich. Seither sind wir hier auf rund 2000 Metern im Höhentrainingslager. Unser ganzes Team war hier oben, teils zeitlich ein bisschen verschoben. Am Donnerstag geht es dann weiter nach Italien.

Sie haben gesagt, Ihr Formstand sei gut.
Ich bin da, wo ich sein will. Die drei Wochen hier in Kühtai waren sehr wichtig. Natürlich physisch, aber auch mental. Das kommt gut für Samstag und die weiteren Rennen. Alles lief nach Plan.

Am Samstag findet mit der Strade Bianche das erste Rennen auf Stufe World Tour seit Mitte März statt. Wie gehen Sie und das Team den Auftakt an?
Wir wollen eine aktive Rolle spielen. Das Ziel muss der Sieg sein. Wir haben mit Tiesj Benoot einen ehemaligen Sieger im Team. Mit Sören Kragh Andersen haben wir einen weiteren Siegeskandidaten in unseren Reihen. Dazu haben Nicholas Roche und ich geschützte Rollen. Wir sind also breit aufgestellt und hoffentlich in der Endphase des Rennens noch zahlreich vertreten.

Der Höhepunkt in dieser verkürzten Saison steht speziell auch für Sie in einigen Wochen an. Sie sind für die Tour de France vorgesehen.
Dass ich als meine erste grosse Rundfahrt gleich die Tour de France bestreiten darf, ist natürlich eine grosse Ehre und zeigt mir, welches Vertrauen die Teamführung in mich hat. Hier in Kühtai lag mein Trainingsfokus denn auch bereits auf der Tour. Wir sind ganz viele Berge gefahren. Auch habe ich am ‚Motor‘, der Grundausdauer, gearbeitet, damit ich möglichst gut durch die drei Wochen kommen werde.

Was hat das interne Aufgebot für die Tour de France bei Ihnen ausgelöst?
Es ist ein Riesen-Traum, der wahr wird. Die Tour de France ist ganz einfach das grösste Rennen, das es gibt. Da ist es toll, wenn das Team in mir Potenzial sieht und in mich investiert. Sonst wäre ich nicht nominiert worden.

Was nehmen Sie sich für die Tour-Premiere vor?
Vor allem zu lernen. Unserem Team geht es nicht um den Gesamtsieg, sondern unser Ziel sind Etappenerfolge. Wir wollen Tag für Tag die bestmöglichen Ergebnisse erzielen.

Werden auch Sie im Finale der einen oder anderen Etappe etwas versuchen?
Warum nicht? Jeder wird seine Chance erhalten. Aber natürlich haben die einzelnen Etappen noch nicht im Detail angeschaut. Es geht dann in einem Monat schon auch darum, wie gut meine Form sein wird. Je nachdem erhalte ich mehr oder weniger Freiheiten.

Hat sich durch das Coronavirus etwas geändert?
Am Ende war es zu Hause fast wieder normal. Doch das Trainingslager war schon sehr speziell. Wir hatten ein Hotel, dessen Mitarbeiter alle getestet worden sind, nur für unser Team. Es wurde separat in den immer gleichen Gruppen trainiert und gegessen. Bei den Trainings gab es keinen Café-Stop, sondern wir wurden aus dem Begleitauto verpflegt und hielten irgendwo im Grünen. Es sollte sich wirklich keiner anstecken. Das wäre der Worst Case gewesen.

Wie oft werden Sie getestet?
Immer sieben und drei Tage vor dem Rennen.

Und wie erfolgt die Anreise nach Italien?
Nicht mit dem Team-Bus, sondern jeder mit seinem Auto. Was wir beeinflussen können und in unseren eigenen Händen haben, das tun wir. Wie bei der Strade Bianche die Schutzmassnahmen sind, weiss ich noch nicht genau.

Erwarten Sie andere Rennverläufe, als dies ohne Corona-Pandemie der Fall gewesen wäre?
Corona und die vielen Verschiebungen haben sicher Einfluss. Die Temperaturen sind teils ganz anders als am Originaldatum. Beispielsweise Fahrer, die oft Anfang Saison gut sind, die Hitze aber nicht so mögen, werden deshalb mehr Mühe haben.

Was erwarten Sie für ein Niveau?
Generell ein hohes. Im letzten Monat war fast jeder in der Höhe und hat gut trainiert. Die Rennen werden wohl etwas nervöser sein als sonst zu dieser Zeit der Saison. Dass alle Rennen so nahe beieinander liegen, braucht auch Anpassung. Für junge Fahrer wie mich ist vieles Neuland, aber das kann auch ein Vorteil sein. Ganz andere Rennen wird es nicht geben, wobei natürlich die fehlenden Zuschauer und die vielen Schutzmassnahmen ein anderes Ambiente ergeben.

Eine Woche nach dem Ende der Tour de France findet das Strassenrennen an der Heim-WM in der Westschweiz statt. Werden Sie da noch „gute Beine“ haben?
Es gibt schon Fragezeichen, wie ich mich nach meiner ersten Grand Tour fühlen werde. Wir werden sehen, auf der erweiterten Kader-Liste des Nationaltrainers bin ich zumindest mal.

Als im Februar noch Rennen gefahren worden sind, klagten Sie über Hüftschmerzen. Wie kam es dazu?
Das Ganze fing im Januar so richtig an, als ich in der rechten Hüfte eine Entzündung hatte. Abklärungen ergaben, dass das Labrum (Gelenklippe; die Red.) immer etwas zusammengedrückt wird. Ich war in diesem Bereich schon in den Jahren zuvor etwas unflexibel, aber es war damals noch nicht mit Schmerzen verbunden, daher hatte ich es verdrängt.

Wie haben Sie diese Schmerzen in den Griff bekommen?
Es gab verschiedene Abklärungen. Auch eine Operation stand im Raum. Dann hätte ich rund drei Monate nicht voll belasten können. Wegen der Corona-Pause wäre das okay gewesen. Ich wusste aber nicht, ob ich operieren soll. Manchmal ging es mit der Hüfte eben auch wieder besser. Dann wurde mir der Entscheid abgenommen, weil es während Corona plötzlich hiess, dass ich jetzt nicht operiert werden kann.

Stattdessen legten Sie den Schwerpunkt ganz auf die Physiotherapie.
Wir packten das Problem von Grund auf an. Es ging darum, das Becken auf dem Velo etwas mehr aufzurichten als in meiner vorherigen Sitzposition. Zunächst fühlte sich das eher schlechter an, weil es eine Veränderung einer Gewohnheit war. Auch brauchte es etwas andere Muskeln. Ich fühlte mich anfänglich weniger effizient auf dem Velo. Es war deshalb sehr gut, während drei, vier Monaten keinen Leistungsdruck zu haben.

Ab wann ging es besser?
Nach vier, fünf Wochen merkte ich, dass es der richtige Ansatzpunkt war. Ich befand mich bald wieder auf einem guten Trainings-Level. Zuletzt in den Bergen spürte ich teilweise wieder etwas, doch eigentlich ist die Umstellung vollumfänglich erfolgt. Mittlerweile fühle ich mich dank der neuen Sitzposition besser auf dem Velo als in den zwei, drei Jahren zuvor. Die Entzündung hatte also sogar ihr Gutes.

Interview: Keystone-SDA

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