E-Bike
«Es gibt viele Umsteiger, aber nur wenige Einsteiger»
Die Anzahl der Elektrovelos nimmt hierzulande rapide zu – sowohl auf den Strassen als auch im Gelände. Fachpublizist Urs Rosenbaum spricht über Zahlen und die Hintergründe des Booms. «Verlierer» der Entwicklung sei das motorlose Mountainbike, hält der Branchenkenner fest.
- Im Jahr 2018 wurden in der Schweiz 153’000 Elektrovelos verkauft. Wie ist diese Zahl einzuordnen?
Urs Rosenbaum: Die Zahl ist um 28 Prozent höher als jene des Jahres 2017. Noch deutlicher tritt die Entwicklung zutage, wenn wir etwas weiter zurückschauen. 2008 wurden in der Schweiz 13’000 Elektrovelos verkauft. Zehn Jahre später waren es deutlich mehr als zehnmal so viel. Wir erleben einen anhaltenden Elektroveloboom.
- Den 153’000 Elektrovelos stehen 354’000 verkaufte motorlose Velos gegenüber, die Gesamtzahl beläuft sich auf 507’000 Velos. Was lässt sich zu diesem Wert sagen?
Er stagniert, ist in den letzten Jahren nur ganz leicht gestiegen. Markant ist hingegen die Veränderung bei den motorlosen Velos.
- Inwiefern?
Wirkten sich die steigenden Verkaufszahlen bei den Elektrovelos bis 2017 kaum auf die Werte der motorlosen Velos aus, verzeichnen wir von 2017 auf 2018 den ersten richtigen Knick. Die Zahl ging von 381‘000 auf 354‘000 Stück zurück. 354‘000 – das ist der tiefste Wert im letzten Jahrzehnt, obwohl 2018 bezüglich Witterung ein sensationelles Velojahr war.
- Ist demnach nicht nur die Nutzung des Velos, sondern auch dessen Verkauf vom Wetter abhängig?
Das Wetter ist sogar von hoher Rele- vanz. Es gibt Händler, die im Mai 2019 im Vergleich mit dem Vorjahr wegen der nicht wirklich velofreundlichen Verhältnisse Einbussen von fast 50 Prozent verzeichneten.
- Worauf führen Sie derart starke Schwankungen zurück?
Mehr als die Hälfte der Velofahrer sind Lust- oder Genussfahrer. Scheint die Sonne, denken sie ans Radfahren und kaufen sich ein Velo. Viele Schweizer haben genügend frei verfügbares Vermögen, sie können sich das leisten. 2018 kauften offensichtlich viele dieser Lustfahrer kein motorloses Velo, sondern ein E-Bike.
«2018 kauften viele Lustfahrer kein motorloses Velo, sondern ein E-Bike.»
- Wird das Elektrovelo das motorlose Velo bald als «normales» Velo ablösen?
Bei den Stückzahlen sind wir bei einem knappen Drittel Elektrovelos, bei den Umsatzzahlen schon bei über 50 Prozent angelangt. Es ist schwierig abzuschätzen, wie lange der Boom anhalten wird. Komplett ersetzen wird das Elektrovelo das herkömmliche Velo aber nicht.
- Was spricht dagegen?
Erstens dürfen Kinder von Gesetzes wegen keine motorisierten Velos fahren. Zweitens wird es immer genügend Sportler geben, die ohne Motor un- terwegs sein wollen. Drittens ist ein E-Bike teurer als ein herkömmliches Velo; nicht alle können es sich leisten.
- Wird der Preis aufgrund des höher werdenden Absatzes nicht sinken?
Elektrovelo mit anständigen Komponenten kostet heute über 2000 Franken. Vorstellbar ist, dass der Preis in den Bereich von 1500 bis 2000 Franken fallen wird. Aber noch tiefer? Das glaube ich nicht. Einerseits ist ein leistungsfähiger Akku einfach teuer, anderseits spricht die Schweizer Mentalität dagegen. Der Schweizer gibt lieber ein bisschen mehr Geld aus und erhält dafür ein Qualitätsprodukt mit vernünftiger Lebensdauer. Der Markt wird sich diesem Bedürfnis anpassen.
- Handelt es sich bei den 153‘000 verkauften Elektrovelos vornehmlich um E-Mountainbikes oder um Räder für den urbanen Verkehr?
In absoluten Zahlen betrachtet, haben die Urban E-Bikes die Nase deutlich vorne. Der Anteil der E-Mountainbikes beläuft sich auf 54‘000 Stück, also auf einen guten Drittel. Gänzlich anders sieht es aus, wenn man sich am Wachstum im Vergleich zum Vorjahr orientiert. Da haben die Urban E-Bikes um knapp 18, die E-Mountainbikes hingegen um 52 Prozent zugelegt. Es scheint, als wäre bei den E-Mountainbikes eine Rakete gezündet worden.
- Ist demnach von einem E-Bike-Ansturm auf die Trails auszugehen?
E-Mountainbikes werden nicht nur im Gelände eingesetzt. Es gibt im urbanen Raum Bevölkerungsgruppen, die ihr E-MTB im Stadtverkehr nutzen – zum Beispiel 30- bis 40-jährige Frauen. Ihr E-MTB sieht sportlicher aus als die klassischen schweren Einkaufselektrovelos ihrer Mütter. Die jungen Frauen grenzen sich dadurch von den älteren ab. Das E-MTB spiegelt den Zeitgeist und ist erst noch praktisch. Mit dem E-MTB kommt man in den Zentren überall hin, mit dem Auto ist das nicht mehr der Fall.
Zur Person
Urs Rosenbaum, Jahrgang 1976, bewegt sich beruflich seit über 20 Jahren in der Velobranche; in den letzten 15 Jahren wirkte der Winterthurer unter anderem als Fachpublizist für Fahrradthemen. Sein Spezialgebiet besteht darin, Fahrradtrends punkto Markt und Technik früh zu registrieren und deren Relevanz in Worte zu fassen.
«Der Schweizer gibt lieber ein bisschen mehr Geld aus und erhält dafür ein Qualitätsprodukt mit vernünftiger Lebensdauer.»
- Kommen wir auf den Einbruch bei den motorlosen Velos zu sprechen: Welcher Velotyp ist vom Rückgang am stärksten betroffen?
Ganz klar das Mountainbike, die Verkaufszahlen sind bereits seit über einem Jahrzehnt rückläufig. Von 2017 auf 2018 jedoch ist der Absatz gleich um 14 Prozent zurückgegangen. Trotzdem ist das motorlose Mountainbike mit 127‘000 Stück immer noch das am meisten verkaufte Velo – vor den motorlosen City- und Trekkingbikes mit 105‘000 Stück.
- Wie lässt sich die negative Entwicklung beim motorlosen Mountainbike erklären?
Natürlich durch den Aufstieg des E-Bikes, aber auch durch den technischen Fortschritt bei den motorlosen Mountainbikes. Um die Jahrtausendwende herum war jedes zweite in der Schweiz verkaufte Velo ein motorloses Mountainbike. Danach begann die Industrie, verschiedene MTB-Typen zu entwickeln; die Spezialisierung schreitet bis heute voran. Hoch entwickelte Räder wie die modernsten Enduro-Bikes verlangen eine sehr gute Fahrtechnik, damit man ihre Vorzüge nutzen kann. Ein Rennvelo hingegen ist ein Rennvelo geblieben, damit können auch Einsteigerinnen und Einsteiger fahren.
- Steigen demnach die Verkaufszahlen bei den Rennvelos?
Ja, das Rennvelo legt auf tiefem Level zu. Von 2017 auf 2018 verzeichneten wir einen Anstieg um 18,5 Prozent auf 32‘000 Stück, Gravel-Bikes inklusive. In den Siebziger- und Achtzigerjahren hatte es einen Rennveloboom gegeben. 20 Jahre später wurde das Rennvelo salopp formuliert zum Velo der «alten Säcke», weil sich die Jungen von ihren Vätern abgrenzten und sich ein Mountainbike kauften. Die heutigen Jungen steigen wieder vermehrt aufs Rennvelo, insbesondere die Frauen.
- Eingangs hielten Sie fest, die Gesamtzahl der verkauften Velos mit und ohne Motor stagniere. Lässt sich daraus folgern, dass die Anzahl der Velofahrerinnen und Velofahrer trotz dem E Boom nicht steigen wird?
Der Gruppe der Velofahrenden wächst in der Tat nur marginal. Ein wesentlich stärkeres Wachstum registrieren wir bei der Anzahl der gefahrenen Kilometer. Mit einem motorlosen Velo werden im jährlichen Durchschnitt 600 Kilometer, mit einem Elektrovelo 2400 Kilometer abgespult. Die Differenz wurde früher mit dem Auto oder mit dem ÖV zurückgelegt. Aber zurück zur Frage: Es gibt viele Umsteiger, aber nur wenige Einsteiger. Wir erleben einen E-Bike-Boom, aber keinen Veloboom.
Das ASTRA denkt an Veloschnellstrassen
Die Zahlen, die der Branchenkenner Urs Rosenbaum im Interview nennt, sind erstaunlich – fast jedes Dritte hierzulande im Vorjahr verkaufte Fahrrad ist ein Elektrovelo. Da drängt sich die Frage auf, ob die Infrastruk- tur den Wandel auffangen kann oder modifiziert werden muss. Die Antwort lieferte Jürg Röthlisberger an der von Swiss Cycling Anfang Juli durchgeführten nationalen E-Bike-Tagung in Bern. Anpassungen seien unumgänglich, liess der Direktor des Bundesamtes für Strassen (ASTRA) verlauten und verwies auf eine Prognose des Bundesamtes für Raumentwicklung (ARE), wonach der Langsamverkehr in den nächsten 20 Jahren um über 30 Prozent zunehmen werde. Elektrovelos seien schneller und gefährlicher als konventionelle Fahrräder, zudem mangle es auf vielen Velowegen an Raum für Überholmanöver. «Gemeinsames Ziel von Bund und Kantonen muss sein, die Radwege so gut und sicher zu machen wie die Nationalstrassen», hielt er fest und erinnerte an das Resultat beim Bundesbeschluss Velo, der im Herbst 2018 von 73,6 Prozent der Stimmbürger und allen Ständen angenommen worden war.
Die Entflechtung des Strassenverkehrs ist bereits im Gang. So wurde im Juni ein Radweg durch die Schöllenenschlucht eröffnet. Röthlisberger schwebt vor, den Bau einer 20 Kilometer langen Veloschnellstrasse zu initiieren; er sprach von einem Leuchtturmprojekt. Was für Schweizer Ohren revolutionär klingt, existiert in vergleichbaren Ländern wie Dänemark und Holland seit Jahren. Höchste Zeit also, dass die Schweiz den Standard anpasst. Werden die Radwege sicherer, dürfte nicht nur die Zahl der E-Bike-Umsteiger, sondern auch jene der Velo-Einsteiger rasant wachsen.