Kathrin Stirnemann
«Es fühlt sich richtig an»
Bild: Ego-Promotion
Kathrin Stirnemann hat an den Mountainbike-Europameisterschaften in der Tessiner Gemeinde Monteceneri ihr letztes internationales Rennen bestritten. Für die am Donnerstag 31-jährig werdende Aargauerin ist der Rücktritt kein Ausstieg, sondern ein Umstieg. Sie bleibt dem Radsport erhalten.
Das Abschiedsbild wird in der Team Area vor dem Truck des Schweizer Nationalteams gemacht. Die Kolleginnen aus der Landesauswahl tragen Kathrin Stirnemann auf den Schultern. Es wird gescherzt, gelacht, die Hauptdarstellerin strahlt. Soeben hat die Aargauerin anlässlich der Mountainbike-Europameisterschaften am Monte Tamaro ihren letzten internationalen Wettkampf absolviert – und dies überaus erfolgreich. Der 14. Rang kommt einem Erfolgserlebnis gleich. Stirnemann ist es nochmals gelungen, ihr Leistungsvermögen abzurufen und sich im anvisierten Bereich der Rangliste einzureihen. Was zuletzt nicht so oft der Fall gewesen war. «Aufwand und Ertrag stimmen für mich nicht mehr überein», lässt Stirnemann verlauten, sogleich ergänzend, dass der Rücktritt auch andere Gründe habe.
So wäre allenfalls eine Fortsetzung der erst vor Kurzem lancierten Strassenkarriere denkbar gewesen, hätte sich die World Tour-Equipe Paule Ka (ehemals Bigla Katjuscha) nicht mangels zahlungsfähiger Partner aufgelöst. Stirnemann versuchte gar nicht erst, anderswo Unterschlupf zu finden, sagt, «es wäre emotional für mich schwierig gewesen, voll auf die Strasse zu setzen». Nach den Mountainbike-Weltmeisterschaften in Leogang entschied die am Donnerstag ihren 31. Geburtstag feiernde Gränicherin, an der Heim-EM ihr letztes Rennen zu bestreiten. «Ich habe den Eindruck, es bringt unter dem Strich mehr, wenn ich meine Energie in anderer Funktion einsetzen werde», lässt sie verlauten. «Es fühlt sich richtig an.»
Zweimal Weltmeisterin, dreimal Europameisterin
Es handelt sich um einen leisen Abgang – Pandemie-bedingt, versteht sich. Ohne Corona hätten im Zielgelände die Korken geknallt. Stirnemann ist eine allseits beliebte Teamplayerin, welche integrativ wirkt, Jüngere an ihrer Erfahrung teilhaben lässt. Sie hält denn auch fest, ihr würden «die Zeit mit den Girls, die Trainingslager, die Dynamik im Team und die Bike-Familie» am stärksten in Erinnerung bleiben. «Mein Herz schlägt auch der sozialen Komponente wegen für den Bike-Sport».
In sportlicher Hinsicht hat Kathrin Stirnemann insbesondere in der (Sprint-)Disziplin Eliminator Spuren hinterlassen. Zweimal war sie Weltmeisterin, dreimal Europameisterin, 2014 triumphierte sie im Gesamtweltcup. Das wertvollste Resultat im olympischen Cross-Country stellt der Silbermedaillengewinn an den European Games 2015 in Baku dar. Die Aargauerin ist eine vergleichsweise kräftige Athletin; es erstaunt daher nicht, kommen ihre Qualitäten über kurze Distanzen am stärksten zur Geltung. Ihren letzten Podestplatz auf höchster Ebene realisierte sie vor Jahresfrist im Weltcup Short Race von Albstadt. 20 Minuten lang mit voller Kraft in die Pedale treten – das neue, den Eliminator langsam aber sicher ablösende Format ist auf das Profil von Kathrin Stirnemann zugeschnitten.
Der Seitenwechsel hat längst begonnen
Am Tag nach ihrem sportlichen Abschied – die Nationalteam-Kolleginnen sind bereits wieder zuhause – steht Kathrin Stirnemann erneut am Monte Tamaro auf der Strecke. Der Wettkampf der Juniorinnen ist im Gang, in der siebenköpfigen Auswahl von Swiss Cycling finden sich mit Eliane Schenk und Vera Schmid zwei Athletinnen, die von Stirnemann betreut werden. Die Ausbildung zur Berufstrainerin hat sie längst begonnen, was wenig überrascht, amtete ihr Vater Beat Stirnemann doch bis zu den Olympischen Spielen 2012 in London als Schweizer MTB-Nationaltrainer. «Ich freue mich darauf, künftig mehr Zeit dafür zu haben, mein Wissen weiterzugeben», sagt Kathrin Stirnemann. Gleichzeitig weiss sie genau, was sie 2021 vermissen wird: «Das Leben als Athletin wird mir fehlen. Es ist ein Riesenprivileg, Spitzensportlerin zu sein.»