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Ready to Ride

Die Schiedsrichterin

Der Countdown läuft: Kommissärin Ariane Previtali (l.) zählt an der WM 2019 in Yorkshire die Sekunden bis zum Start des Schweizer Zeitfahr-Teams herunter. Bild: Arne Mill

Ariane Previtali ist seit über einem Jahrzehnt als Kommissärin tätig. Die Funktion der Regelhüterin ist im Strassenradsport vielschichtig und komplex, das Einsatzgebiet reicht vom Studium der Strecke bis zur Sanktionierung von unzulässiger Abfallentsorgung.

Die Konzentration ist hoch. Claudio Imhof, Robin Froidevaux und Joel Suter atmen tief durch, der Start des Mixed-Teamzeitfahrens anlässlich der Strassen-WM in Yorkshire steht unmittelbar bevor. Der Frau, welche auf dem Bild (oben) zur Linken des Trios zu sehen ist, kommt eine Schlüsselrolle zu, obwohl sie vom Massenpublikum kaum wahrgenommen wird. Sie zählt die Sekunden herunter, ist verantwortlich, dass die Teams die Rampe zum richtigen Zeitpunkt verlassen. Es handelt sich um Ariane Previtali, ihres Zeichens Kommissärin, wie die Schiedsrichterinnen im Radsport bezeichnet werden – nicht von Beruf, aber aus Berufung.

Begonnen hat die Geschichte vor zwölf Jahren an der Tour de Suisse. Previtali, seit Kindestagen mit dem Radsport verbunden und mit einem ehemaligen Radprofi verheiratet, erhielt unverhofft die Möglichkeit, einen Kommissär auf Rennstufe im Auto zu begleiten. Vier Stunden lang habe sie diesen mit Fragen gelöchert, hält die 40-Jährige fest, sich bestens an diesen Tag erinnernd. Als sie ausstieg, war ihr klar: «Diese spannende, herausfordernde Funktion ist genau das Richtige für mich.» Tags darauf meldete sie sich bei Swiss Cycling, ein paar Wochen später stand sie am U19-Rennen GP Rüebliland erstmals im Einsatz.

Heute ist die Zürcherin UCI-Kommissärin. Sie hat sämtliche Lehrgänge durchlaufen, kann in einem bis zu 15-köpfigen Kommissärskollegium alle Rollen übernehmen. Im Rennen besteht die Aufgabe der Kommissäre darin, die Einhaltung der Regeln zu überwachen, die Fairness zu gewährleisten. Gleichzeitig tragen sie in Sachen Sicherheit viel Verantwortung. Sie entscheiden beispielsweise, wann sich ein Sportlicher Leiter mit seinem Auto zwischen die Fluchtgruppe und das Feld begeben darf.

Die Sprinter in der Wagenkolonne

Um hierfür in der Lage zu sein, bedarf es im Vorfeld eines detaillierten Studiums der Strecke. Die Kommissäre müssen genau wissen, wo es Bahnübergänge und Baustellen gibt, wo die Strassen enger werden, wo sich die Verpflegungszonen befinden. Bei Letzteren gelte striktes Überholverbot, sagt Ariane Previtali. Häufig stünden die Betreuer mit ihren Verpflegungstaschen mitten auf der Strasse. Zudem seien meistens Kinder zugegen, die auf der Jagd nach Souvenirs den Taschen hinterherrennen, welche von den Fahrern weggeworfen worden seien.

Der Präsident oder die Präsidentin des Kollegiums fungiert als mobile Schaltzentrale. Er (oder sie) sitzt stets im ersten Auto hinter dem Feld, aus seinem Wagen wird das Radio-Tour-Signal gesendet. Er positioniert seine in Autos respektive auf Motorrädern sitzenden Kollegen dem Rennverlauf entsprechend, steht mit dem vor dem Bildschirm sitzenden Video-Kommissär in Kontakt. Wobei er flexibel sein, das Geschehen genau beobachten, zuweilen unter Hochdruck Entscheide fällen und Kompromisse eingehen muss. «Liegen die bis zu 176 Fahrer in einer Bergetappe bis zu einer Stunde auseinander, ist es unmöglich, mit 7 Kommissären alles zu kontrollieren», sagt Ariane Previtali. In solchen Momenten müsse das Kollegium als Team funktionieren. Es brauche eine gute Auffassungsgabe, und es gelte, Prioritäten zu setzen. Die Frage, ob man abgehängte Athleten in diesen Situationen per se vernachlässigen könne, verneint sie vehement. «Womöglich befinden sich im Gruppetto Sprintspezialisten, die sich in der Wagenkolonne verstecken, vom Windschatten der Autos profitieren, dabei Energie sparen und am nächsten Tag die Sprintetappe gewinnen. Wir dürfen nie jemanden bevorteilen.»

«Diese spannende, herausfordernde Funktion ist genau das Richtige für mich.»

In Ballsportarten sanktionieren Schiedsrichter Foulspiele, Tätlichkeiten und verbale Entgleisungen, im Radsport ist die Palette breiter. Ein Klassiker unter den Vergehen sei die Abfallentsorgung, hält Previtali fest. Die Kommissärin erinnert sich an einen Fall im Rahmen der Tour de Suisse: «Auf der linken Seite der Strasse befand sich der Zugersee, auf der rechten standen Zuschauer, und der Fahrer warf seinen leeren Bidon tatsächlich in den See.» In solchen Momenten verstehe sie die Welt nicht mehr, sagt Previtali. Die Fahrer seien angehalten, ihre Bidons dort zu entsorgen, wo es Zuschauer habe, weil dies zu Win-Win-Situationen führe. «Die Zuschauer freuen sich über die Bidons und werden sie wiederverwenden.»

Das fehlende Bewusstsein

Nicht minder häufig zu beobachten sei, dass Athleten ihre Startnummer verkleinern, dabei den Namen den Sponsors abschneiden würden. Im Dialog mit betroffenen Fahrern stelle sie fest, dass vielen Athleten gar nicht bewusst sei, welch hohe Bedeutung die Sponsoren für den Radsport, für das jeweilige Rennen und letztlich für die Fahrer hätten, meint die Kommissärin. Letzteres gelte nicht nur im Zusammenhang mit den Sponsoren, sondern auch mit den Zuschauern. So würden Radprofis zunehmend erst auf den letzten Drücker am Start erscheinen, bei langen Neutralisationen manchmal sogar «direkt von den Bussen aus starten», weil ihnen genügend Zeit zum Aufholen bleibe. «Früher nahmen sich die Profis Zeit, verteilten Autogramme, die so wichtige Nahbarkeit des Radsports wurde gelebt. Die Zuschauer kommen zum Start, weil sie Fahrer sehen wollen. Sehen sie keine Fahrer, werden sie irgendwann nicht mehr kommen.»

Werden Schiedsrichterinnen im Fussball besonders kritisch beäugt, stelle dies im Radsport selten ein Problem dar. Previtali sagt, die Akzeptanz seitens der Sportlichen Leiter hänge primär vom eigenen Auftreten ab. «Diskussionen gibt es immer. Wenn du deinen Job professionell erledigst, dich auf das Wichtige konzentrierst, kommt die Akzeptanz von alleine.» Wobei sie über den Vorteil verfügt, mit der Konstellation vertraut zu sein. Als im Vollpensum beim IT-Konzern Siemens angestellte IT-Managerin bewegt sie sich seit einem Jahrzehnt in einer Männerdomäne. Ihr Fazit: Der Respekt gegenüber weiblichen Führungskräften entwickelt sich positiv – in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport.

Anlässlich ihrer WM-Premiere in Yorkshire kam Ariane Previtali als Startrichterin (Zeitfahren) und Rennleiterin im Auto (Strassenrennen) zum Einsatz. Im Herbst, an den Titelkämpfen in Aigle-Martigny, wird sie für Swiss Cycling und nicht für den Weltverband engagiert sein, dabei eher im Hintergrund wirken. Mittelfristig jedoch hat sie Grösseres vor, die Ziele sind definiert: das Kollegium an einer der drei Grand Tours präsidieren sowie an Olympischen Spielen teilnehmen.

Entwicklungshilfe in den Tropen

Der Radsport ist ihr Hobby. 3000 Kilometer hat Ariane Previtali im vergangenen Sommer im Sattel abgespult, drei bis vier Wochen pro Jahr wendet sie für ihre Tätigkeit als Kommissärin auf. Wobei sie sich nicht «nur» an Wettkämpfen, sondern auch als Instruktorin engagiert. Zuletzt stand sie diesbezüglich unter anderem auf Malta und in Ruanda im Einsatz, die Reise nach Ostafrika dürfte ihr zeitlebens in Erinnerung bleiben. Das Land der tausend Hügel bewirbt sich für die Austragung der Strassen-WM 2025. Vor diesem Hintergrund werden im «Africa Rising Cycling Centre» auf 2000 Metern über Meer Velofahrer, Trainer, Mechaniker und eben Kommissäre ausgebildet.

Das mit Hilfe des Weltverbands UCI errichtete Zentrum sei eine Art Internat mit integrierter Werkstatt, sagt Previtali, welche sich alleine nach Ruanda begeben hat. Die spezifische Radsport-Ausbildung werde mit elementarer schulischer Bildung verbunden. Es sei eine nicht alltägliche Herausforderung gewesen, den viertägigen Basiskurs durchzuführen, die Inhalte zu transportieren. «Von den 20 Auszubildenden hatten 16 noch nie ein Velorennen gesehen. Einige wussten nicht einmal, was die Tour de France ist.» Dafür sei die Qualität der Strassen hoch. «Vieles ist geteert, und es sind kaum Autos unterwegs.»

Gewiss, der Aufwand sei beträchtlich, der Ruanda-Trip wahrlich ein Abenteuer gewesen, erwidert Ariane Previtali auf die entsprechenden Fragen. «Aber bei solchen Reisen bekommt man auch viel zurück.» Sie erzählt von strahlenden Gesichtern, von der Freude der Teilnehmenden über die alten Tour de Suisse-Trikots, welche sie verteilt habe. «Ich hatte eine wunderschöne Zeit mit wunderbaren Leuten.» Gleichzeitig habe sie registriert, etwas wirklich Sinnvolles zu tun, erhielten doch in Ruanda viele Menschen dank des Radsports eine Perspektive. «Ich betrachte es als Privileg, an einer Tätigkeit Spass zu haben und gleichzeitig anderen helfen zu können.» Die Augen leuchten, als sie das sagt – das Herzblut fliesst in Strömen. Es ist offensichtlich: Ariane Previtali hat das perfekt zu ihr passende Hobby gefunden.

KommissärIn werden?

Spricht Sie dieser Beitrag an? Swiss Cycling würde sich über Kommissär-Nachwuchs freuen, insbesondere über Frauen, deren Anteil zwar steigend, aber noch immer relativ gering ist. Interessierte können sich bei Ausbildungschef Lucas Schmid (ausbildung@swiss-cycling.ch) melden; er steht für Fragen gerne zur Verfügung.

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