Hiltis Corner
Die alte Leier nach der WM: Alle hatten sich alles anders vorgestellt
Der Strassen-WM-Sonntag mit dem Eliterennen: Was unspektakulär beginnt, endet nach sechs bis sieben Stunden oft dramatisch. Meistens hatten sich alle das Rennen ganz anders vorgestellt.
Die WM 1996 in Lugano verläuft anders als erwartet. Die grösste Arbeit machen die Italiener. Das stärkste Team ist jenes der Schweiz. Geformt von Coach Wolfram Lindner. Dirigiert von Tony Rominger. Oskar Camenzind lanciert das Rennen. Johan Museeuw (BEL) aber ist der Schnellste. Für die Ehrenmeldung sorgt Mauro Gianetti, der Tessiner gewinnt Silber.
Die WM 2001 in Lissabon ist der Beginn des «modernen Radsports». Auf der als sehr schwer taxierten Strecke fürchten alle ein Ausscheidungsrennen. Daher lautet die Stallorder: So viele Fahrer wie möglich ins Finale bringen. Weil sich alle Teams an die Order halten, entwickelt sich eines der langweiligsten WM-Rennen in der Geschichte. 45 Profis (!) kommen gemeinsam auf die Zielgerade. Es gewinnt der Spanier Oscar Freire, schweizerseits sind Beat Zberg (10.) und Niki Aebersold (20.) dabei. Der Rennverlauf wird zum Spiegelbild des neuen Radsports: Die Taktik steht über der Eigeninitiative – und bei ausbleibendem Erfolg wird auf kommende grosse Rennen verwiesen.
2009 findet die WM wiederum im Tessin statt. Fabian Cancellara will in Mendrisio in die Geschichte eingehen, nach dem Triumph im Zeitfahren auch im Strassenrennen Weltmeister werden. Er attackiert zu früh, scheitert vor 120’000 Zuschauern, wird Fünfter. Geschichte schreibt Cadel Evans, der im nahen Stabio wohnt; er holt den ersten Titel für Australien. Ausgerechnet der ewige Zweite. Ausgerechnet der Zauderer, der es in seiner Wahlheimat erstmals im entscheidenden Moment wagt, den «Arsch» zu lupfen.
Vielleicht feiern die Schweizer Profis am 27. September abends in Martinach – so heisst Martigny für mich als Oberwalliser – ihren Weltmeister. Sollte dies der Fall sein, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich alle alles ganz anders vorgestellt haben.
Hiltis Corner
Hans-Peter Hildbrand, Jahrgang 1956, seit 1980 Radsport-Journalist beim Blick/Sonntagsblick. Palmarès als Chronist: 39-mal Tour de Suisse, 35-mal Tour de France, 31-mal Tour de Romandie, 5-mal Spanien-Rundfahrt, je rund 30-mal Paris–Roubaix, Flandern-Rundfahrt, Lüttich–Bastogne–Lüttich, 30 Weltmeisterschaften (Strasse, Bahn, Quer) – ohne Sieg, mit nur einem Blechschaden!