World Tour
Der Kalender steht, die Ungewissheit bleibt
Streckenbesichtigung: Eine Auswahl des Nationalteams war im Dezember auf dem WM-Kurs oberhalb von Martigny unterwegs. Bild: Maxime Schmid
Die Strassenprofis stehen vor einem ereignisreichen Herbst – sofern die Corona-Pandemie einen Neustart der Saison überhaupt zulassen wird. Der überarbeitete Rennkalender des Weltverbandes UCI gleicht einem Mammutprogramm.
Weil nur sechs World-Tour-Veranstaltungen, unter ihnen die Tour de Suisse und die Tour de Romandie, die Absage einer Verschiebung vorgezogen haben, stand die UCI vor der Herkulesaufgabe, praktisch die gesamte Radsaison in drei Monate zu verpacken. Entstanden ist von August bis Anfang November ein dicht gedrängtes Programm, in dem die drei grossen Landesrundfahrten, die fünf wichtigsten Klassiker, die Strassen-WM und zahlreiche andere World-Tour-Rennen untergebracht wurden.
Es war deshalb unausweichlich, dass es zu Überschneidungen kommt. So überlappt sich das Ende des Giro d’Italia (3. bis 25. Oktober) mit dem Start der auf 18 Etappen verkürzten Spanien-Rundfahrt (20. Oktober bis 5. November). Ein besonderes Augenmerk gilt dem 25. Oktober. An diesem Sonntag finden gleichzeitig die Giro-Schlussetappe, ein Teilstück der Vuelta und der Pavé-Klassiker Paris-Roubaix statt. Ebenfalls im Oktober sind in Konkurrenz mit einer Grand Tour die Monumente Lüttich-Bastogne-Lüttich, Flandern-Rundfahrt und Lombardei-Rundfahrt eingeplant.
Der Neustart der World-Tour-Saison, die seit Mitte März unterbrochen ist, soll am 1. August mit dem italienischen Halbklassiker Strade Bianchi erfolgen. Als erstes grosser Höhepunkt nach der mehrmonatigen Pause ist am 8. August der Klassiker Mailand-Sanremo vorgesehen.
Die UCI bestätigte am Dienstag auch den Termin für die ursprünglich zwei Monate zuvor eingeplante Frankreich-Rundfahrt, die für die Radsport-Szene von existenzieller Bedeutung ist. Für einen planmässigen Start am 29. August in Nizza müssen allerdings noch einige Hürden aus dem Weg geräumt werden, sind in Frankreich doch bis Ende August keine Veranstaltungen mit über 5000 Personen erlaubt.
Am Termin der Strassen-Weltmeisterschaften in Aigle und Martigny (20. bis 27. September) hielt die UCI fest. Das bedeutet, dass sich das WM-Zeitfahren mit dem Ende der Tour de France überschneidet. Das wird vor allem für Fahrer wie Stefan Küng zum Problem.
Der letztjährige Bronzemedaillengewinner im WM-Strassenrennen spricht zwar von „Licht am Ende des Tunnels“, wenn es endlich wieder losgehen sollte. Gleichwohl äussert er mit Blick auf den neuen Kalender aber auch seine Bedenken: „Für mich stellt sich die Frage: ‚Kann das überhaupt alles so stattfinden? Und ist es sinnvoll, all diese Rennen nachzuholen?'“ Küng ist sich sicher, dass es von allen Seiten Kompromisse brauchen wird. „Wer das am besten unter einen Hut kriegt, der wird am Ende als Gewinner dastehen.“
Die zahlreichen Überschneidungen werden zweifelsohne dazu führen, dass nicht alle grossen Rennen auf ein gewohnt starkes Teilnehmerfeld zurückgreifen können. So liegen zwischen dem Anfang der ersten dreiwöchigen Rundfahrt (Tour de France) und dem Ende der dritten (Vuelta) beispielsweise nur 72 Tage.
Alles andere als sicher ist freilich, dass in diesem Jahr überhaupt noch Rennen gefahren werden – zumal der Radsport sich im Gegensatz zu anderen Sportarten in einem viel grösseren Radius bewegt. Alleine während der Tour de France werden über 3000 km zurückgelegt. Hotels und Umfeld wechseln täglich. Da braucht es nicht viel, und das Konstrukt beginnt in sich zusammenzufallen, bevor der vollgepackte Herbst überhaupt erst ins Rollen kommen wird. Letztlich hängt fast alles von der Frage ab, wie sich die Pandemie in den kommenden Wochen entwickeln wird.
Text: Keystone-SDA
Die Heim-WM beginnt mit dem Elite-Zeitfahren
Der Radsport-Weltverband UCI musste praktisch den gesamten Saison-Kalender über den Haufen werfen. Am Termin der Strassen-Weltmeisterschaften in Aigle/Martigny (20. bis 27. September) hielt man aber fest.
„Die Termine und das Programm wurden bestätigt“, sagt Grégory Devaud, der Co-Präsident des Organisationskomitees. „Das bedeutet, dass das Elite-Zeitfahren der Männer am Sonntag, 20. September, dem ersten Wettkampftag, stattfinden wird.“ Damit steht das WM-Einzelzeitfahren in direkter Konkurrenz zur letzten Etappe der Tour de France auf der Pariser Champs-Elysées, was nicht optimal ist. „Natürlich hätten wir in einer idealen Welt das Zeitfahren verschoben“, fügt Devaud an. Es sei aber nicht wirklich einfach gewesen, das Programm zu ändern.
Stefan Küng gehört zu jenen Fahrern, die von diesem Entscheid direkt betroffen sind. Der Thurgauer wird mit grosser Wahrscheinlichkeit mit seinem Team Groupama-FDJ die Tour de France bestreiten. Trotzdem bleibt das WM-Zeitfahren in seiner Heimat für ihn ein grosses Ziel. Der Thurgauer muss deshalb Kompromisse eingehen. Ein wahrscheinliches Szenario ist deshalb, früher aus der Frankreich-Rundfahrt auszusteigen. „Um bei einer WM vorne mitfahren zu können, muss alles hundert Prozent stimmen. Dazu gehört auch die Erholung“, bestätigt der letztjährige WM-Dritte im Strassenrennen.
Wie viele andere steht auch das WM-Organisationskomitee vor einer ungewissen Zukunft. Derzeit ist es schwierig abzuschätzen, wie sich die Corona-Pandemie bis Mitte September entwickeln wird. „Was wird zum Beispiel mit den amerikanischen Fahrern geschehen?“, fragt OK-Präsident Devaud. „Können Athleten aus Ländern, die noch vom Virus betroffen sind, ohne Quarantäne-Zeit in die Schweiz reisen? Es gibt noch viele Unbekannte.“
In der Schweiz sind Veranstaltungen mit mehr als 1000 Personen bis Ende August verboten, was den Organisatoren wenig Spielraum lässt. Der Gemeinderat von Aigle will deshalb bis Ende Juni entscheiden, ob die Weltmeisterschaften wie geplant durchgeführt werden können oder nicht. Eine WM ohne Zuschauer schliesst Devaud kategorisch aus: „Die Weltmeisterschaften sind ein Fest des Radsports.“ sda