Dokumentarfilm
Der Gregario: Verlieren als Berufung
Der litauische Filmregisseur und –produzent Arūnas Matelis widmet sich über mehrere Jahre der Faszination des Verlierens im Profiradsport und den Athleten, die sich dieser Aufgabe verschreiben. Im Film «Wonderful Losers» wird gezeigt, welche unvorstellbaren physischen Grenzen ausgelotet werden, um jemand anderen vor sich selbst ins Ziel zu bringen.
Der Dokumentarfilm «Wonderful Losers» ist die «selten erzählte Geschichte über wahre Helden, Krieger und Mönche des Profi-Radsports» – so beschreiben die Macher ihr Werk. Matelis schafft einen Dok-Film, der nicht nur in der Radszene für Aufmerksamkeit sorgen soll, sondern auch weit darüber hinaus auf Gehör stossen könnte. Es wird erstmals über diejenigen Radrennfahrer erzählt, welche ganz hinten im Peloton mitfahren, das ganze Team mit Proviant versorgen und meistens erst dann im Ziel eintreffen, wenn für den grössten Teil des Publikums das Rennen schon lange abgeschlossen ist. Der Teamleader ist im Ziel, über den Wasserträger spricht niemand.
Mark Olexa ist Co-Produzent und fungierte bei den Dreharbeiten als Kameramann. 2014 absolvierte er den Giro d’Italia auf dem Rücksitz eines Begleitmotorrads, nur Zentimeter von den Spitzenathleten entfernt, auf der Schulter seine Kamera. Doch Olexa interessiert sich eben nicht für die Spitze, sondern für den unscheinbaren Helfer, das Energiedepot des Teams. Denn Radsport ist, wie fälschlicherweise so oft angenommen wird, kein Einzelwettkampf. Die Leidenschaft, wie sie ein Gregario mitbringt kann in kaum einem anderen Leistungssport beobachtet werden.
Im Film ist zu sehen, wie ein Arzt versucht seinen Patienten zur Vernunft zu bringen. Die Szene spielt sich in einem Untersuchungszimmer ab. Dass es einem Menschen möglich ist, mit einem Beckenbruch weitere fünf Tage lang ein Rennen zu bestreiten, kann niemand wirklich verstehen. Doch im Wettkampf funktionieren die Hochleistungssportler wie unermüdliche Maschinen, gehen weit über die vermeintlichen Grenzen hinaus. Szenen wie diese hat Mark Olexa während den Dreharbeiten unzählige beobachtet: Stürze, Verletzungen, Strapazen. Er erzählt von einer Situation mit einem Fahrer, der ganz kurz vor dem Ziel gestürzt ist. «Ihm ging es wirklich nicht gut. Er schaffte es nicht mehr auf die Beine, lag mehrere Minuten lang am Boden. Plötzlich stand er auf und ich dachte, das Team würde ihn jetzt zu sich ins Fahrzeug nehmen». Aber sie setzten ihn vorsichtig wieder auf sein Rad, den einen Arm starr vorne am Körper positioniert, den anderen am Lenker und so setzte er die Tour fort – denn sein Teamleader zählt auf ihn.
«Gregari sind sich ihrer Leistungsfähigkeit vollkommen bewusst, ziehen aber einen Sieg gar nicht erst in Erwägung»
In der Hektik während eines Rennens stösst man im Begleitfahrzeug der Ärzte auf den Ruhepol: «Die Ärzte und Sanitäter sind im Umgang mit den Fahrern sehr gelassen – das ist beeindruckend. Man sieht, dass sie ihre Arbeit lieben. Sie fungieren nicht nur als Mediziner, sie üben ebenfalls eine Rolle als Motivator aus und unterstützen die Athleten auf mentaler Ebene», betont Olexa. Trotzdem ist die enorme Konzentration spürbar. Jede kleinste Bewegung ist koordiniert und wird über Radiotour mitgeteilt. Es bleibt kein Augenblick übrig, um mit den Gedanken abzuschweifen. Während sechs Stunden ist von allen Beteiligten höchste Konzentration gefordert, es herrscht Hochspannung.
Was einen Menschen so über seine Grenzen hinauswachsen und sogar in solchen Ausnahmesituationen weitermachen lässt – auch Olexa kennt die Antwort nicht. Er weiss jedoch, dass die Leidenskapazität, wie man sie im Radsport findet, nicht so schnell in einer anderen Sportart oder Arbeit auftritt. Das Wohl der Gruppe steht für jeden Fahrer an oberster Stelle, es geht nicht um den Erfolg des Einzelnen. Wie sehr diese Philosophie im Profiradsport verankert ist, zeigt sich im 70-minütigen Dokumentarfilm immer wieder. Die portraitierten Spitzenathleten schildern, wie die besten Momente ihrer Karriere diejenigen waren, in denen sie alles für den Erfolg eines anderen geben konnten. «Ich denke sie sind sehr bescheiden. Manche von ihnen könnten tatsächlich gewinnen. Gregari sind sich ihrer Leistungsfähigkeit vollkommen bewusst, ziehen aber einen Sieg gar nicht erst in Erwägung». Vom Kapitän wird immer mit grossem Respekt und Bewunderung gesprochen. Frustration oder Neid auf zwischenmenschlicher Ebene scheint nicht zu existieren. Unermüdlichen Maschinen, die gleichzeitig Paradevorbilder sozialer und emotionaler Werte darstellen: «Wonderful Losers» ist eine Geschichte über die wahren Helden des Radsports.
JETZT im Kino
«Wonderful Losers» wurde bereits an diversen Filmfestivals vorgeführt und mehrmals als «Bester Dokumentarfilm» ausgezeichnet. Ab Oktober läuft der Dokumentarfilm in über 15 Schweizer Kinos in der Deutsch- sowie in der Westschweiz. Mehr Informationen dazu gibt es auf wonderfullosers.ch.