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Stretching im Radsport

Dehnen leicht gemacht

Im Einsatz: Physiotherapeutin Marie-Lise Sautebin behandelt einen Athleten an der Bahn-EM in Plovdiv. Bild: Arne Mill

Dehnen als Radsportlerin? Brauchen das nicht nur Turner, Tänzerinnen und Leichtathleten? Wann sollte man überhaupt dehnen? Und welche Körperteile? Diese und ähnliche Fragen gehen vielen Athleten regelmässig durch den Kopf. Wir klären auf.

Das Wichtigste zuerst: Was passiert genau beim Dehnen? Während des Dehnens werden die Muskeln in die Länge gezogen und gestreckt. Dadurch werden Beweglichkeit und Durchblutung der Muskeln erhöht, was eine bessere Versorgung mit Nährstoffen und Mineralien bewirkt. Eine dehnfähige und elastische Muskulatur arbeitet effektiver, direkter und ökonomischer. Werden die verschiedenen Muskeln, Sehnen und Bänder regelmässig gedehnt, wird das Zusammenspiel der verschiedenen Körperpartien verbessert. Was sich positiv auf das Leistungsvermögen auswirken kann.

«Das ganze Thema Dehnen ist bis anhin noch nicht genug erforscht worden, um eindeutige Aussagen über die Vor- und Nachteile zu machen. Trotzdem wird es unter den Athleten immer beliebter», meint die Physiotherapeutin Marie-Lise Sautebin, welche für Medbase, den medizinischen Partner von Swiss Cycling, arbeitet und regelmässig mit dem Nationalteam an Rennen unterwegs ist. «Dehnen ist auch nicht gleich Dehnen; es gibt zwei unter- schiedliche Arten», hält sie fest. Die eine Art ist das statische Dehnen. Dabei will man Ursprung und Ansatz des Muskels möglichst weit voneinander entfernen. In dieser Position verbleibt man zwischen 30 Sekunden und einer Minute. Das dynamische Dehnen ist eher ein federndes, funktionelles Dehnen. Dabei wird die passive Muskelspannung reduziert und die Flexibilität erhöht. Auf diese Weise kann eine höhere Gelenkreichweite erreicht werden. Dies sieht man oft bei Leichtathleten kurz vor dem Wettkampf.

Mythen um Muskelkater und Verletzungen

Die Ansicht, wonach das Dehnen vor oder nach sportlichen Aktivitäten das Verletzungsrisiko senkt, ist weit verbreitet. Über die präventive Wirkung bezüglich Verletzungen ist bis- her jedoch noch kein wissenschaftlicher Konsens gefunden worden. Trotzdem: Regelmässiges Stretching fördert die Beweglichkeit, was wiederum das Risiko verringert, über die eigene Beweglichkeitsgrenze hinaus zu geraten und sich eine Zerrung einzufangen. Ein anderer Mythos besagt, dass Stretching Muskelkater verhindern kann. Muskelkater entsteht, wenn die feinen Muskelfasern der Muskeln durch eine intensive oder ungewohnte Belastung (an-)reissen. «Mit Muskelkater dehnen, ist totaler Blödsinn, weil man die Mikroverletzungen nur noch schlimmer macht», sagt Marie-Lise Sautebin. Trotzdem werde es oft gemacht, weil es vielen Sportlerinnen und Sportlern am nötigen Wissen mangle.

Den Oberkörper nicht vergessen

Dehnen kann also Fluch, aber auch Segen sein. Worauf sollten sich Radsportlerinnen und Radsportler nun fokussieren?

Natürlich liegt es im Radsport auf der Hand, zuerst die Beine und Hüftbeuger zu stretchen, weil sie auf dem Velo ständig unter Spannung stehen. Trotzdem ist es wichtig, den Oberkörper nicht zu vergessen. Die Aerodynamik wird im Radsport immer wichtiger, was zur Folge hat, dass die Athleten immer gekrümmter auf dem Sattel sitzen. Trainiert man täglich mehrere Stunden in dieser Position, kann sich die Körperhaltung auch im Alltag verändern. Die Schultern sacken ein, der Rücken ist verspannt. Daher sollte man auch Dehnungen des Oberkörpers sowie der Brust- und Schultermuskulatur einbauen.

Dehnen sei nicht per se die beste Lösung, lässt die Physiotherapeutin verlauten: «Es hilft nicht immer, den verkürzten Muskel zu dehnen. Manchmal ist es sinnvoller, den Antagonisten zu kräftigen». Auf diese Weise sei die Spannung im System höher, und die Muskeln verkürzten sich weniger schnell, weil sie von den Antagonisten zurückgehalten würden.

Natürlich sei Krafttraining nicht für alle Athletinnen und Athleten eine gute Lösung, es komme auf die Disziplin und den Rennkalender an, stellt Sautebin klar. Trotzdem habe es neben der Kräftigung der Muskeln einen weiteren Vorteil: «Viele Übungen, die im exzentrischen Krafttraining gemacht werden, sind auch Dehnübungen. Bei den exzentrischen Krafteinheiten geht es darum, Widerständen entgegenzuwirken. Der Muskel muss dabei koordiniert nachgeben; er wird somit gedehnt. Dies funktioniert dank der intramuskulären Koordination.»

Zeit für Körper und Geist

Der ideale Zeitpunkt und die angemessene Dauer des Dehnens hängen stark von der Sportart ab. Trotzdem sollte nicht direkt nach dem Training gedehnt werden. «Was ich sehr wichtig finde, ist, dass man das Dehnen als separate Trainingseinheit betrachtet. Man sollte sich Zeit lassen und den Muskel nach der Belastung nicht noch mehr stressen», meint die Expertin. Daher kann Dehnen ein guter Ausgleich zum Trainingsalltag sein – ein Programmpunkt für Ruhetage oder Abende. Für viele Sportler kommt Dehnen einer Ruhephase gleich, in welcher sie bewusst in den Körper «hineinhören» und die Körperwahrnehmung verbessern.

«Aus meiner Sicht ist ein zweckmässiges, dynamisches und funktionelles Dehnen besser als ein rein statisches Dehnen», hält Physiotherapeutin Sautebin fest. Letztlich ist Dehnen eine sehr individuelle Sache. Jede und jeder sollte selbst herausfinden, was passt und dem eigenen Körper guttut. Stets das Ziel vor Augen habend, schmerzfrei auf dem Velo zu sitzen.

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