Tom Blaser
Das Sprungbrett ins Leben
Die Findlinge nahe des Zentrums Paul Klee eignen sich bestens fürs Trial-Training. Bild: Sam Buchli
Tom Blaser gehört in der höchste Konzentration erfordernden Sportart
Trial zur erweiterten Weltspitze, obwohl er als Kind Schwierigkeiten bekundete, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Wie der Sport dem 23-Jährigen geholfen hat, sein Selbstbewusstsein zu stärken und Ressourcen freizusetzen.
Der kleine Teich hinter dem Zentrum Paul Klee lädt zum Verweilen. Am und im Wasser befinden sich mehrere Find- linge, die beim Bau des Museums in Berns Osten gefunden worden sind. Eindrücklich für Passanten, perfekt für Trial- Spezialisten, lässt sich festhalten, wobei der Plural im zweiten Fall schief in der Landschaft steht. Als Leistungssportler im Velo-Trial ist Tom Blaser im Kanton Bern ein Exot. Rund einmal pro Woche nutzt der 23-Jährige aus Worb die grüne Oase im Schosshalde-Quartier als Trainingsgelände. Geschmeidig wie eine Katze springt er auf zwei Rädern von einem Stein zum andern, überwindet dabei Höhendifferenzen von fast zwei Metern; er gehört zur erweiterten Weltspitze. Höchstschwierigkeiten gelingen beim Shooting auf Anhieb, es sieht zuweilen spielerisch aus. Wobei: Der Eindruck täuscht, Blaser ist in höchstem Mass konzentriert, hinter seiner beeindruckenden Vorstellung stecken mehrere Tausend Trainingsstunden. «In diesem Sport entwickelst du eine gewisse Beharrlichkeit», lässt er verlauten. Konzentration und Beharrlichkeit sind Eigenschaften, die sich wie ein roter Faden durch sein Leben ziehen.
In den Nullerjahren sitzt Tom Blaser im Zimmer der Einführungsklasse in Münchenbuchsee. Mehrere Schüler zeigen der Lehrerin Bilder ihrer Haustiere. Tom nimmt Bilder von Velos mit, erzählt von wagemutigen Sprüngen über selbst gebastelte Schanzen. Aus den Schürfungen an Armen und Beinen lässt sich schliessen, dass der Siebenjährige bei seinen Erzählungen nicht übertreibt. Hinter dem Schulpult fällt es ihm schwer, sich über längere Zeit zu konzentrieren; es wird eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS) diagnostiziert. Er lässt sich selbst von leisen Geräuschen ablenken, benötigt für Aufträge wesentlich mehr Zeit als andere. Seine Gedanken kreisen um das Velofahren oder um den Bauernhof, auf welchem er jeweils beim Ausmisten des Hühnerstalls hilft und den Mist mit dem kleinen Traktor zum Misthaufen fahren darf. Oft schaut er zum Fenster hinaus statt auf das vor ihm liegende Heft und träumt vor sich hin. Für die Eltern ist die Situation belastend. «Damals hatten wir Angst, dass er die Schule nicht schaffen würde», sagt sein Vater Jürg Blaser.
Zwei Jahre nach obigen Schilderungen – die Familie befindet sich auf der Heimreise von den Skiferien – registriert Tom Blaser im Diemtigtal zwei Trial-Fahrer. Der Drittklässler überredet die Eltern, einen Moment zu verweilen. Aus dem Moment wird eine Stunde – eine gewisse Beharrlichkeit ist offensichtlich schon vor dem Einstieg in den Leistungssport vorhanden. «Ich sah den beiden zu, und irgendwann liessen sie es mich versuchen. Es ging ganz gut, ich fuhr das erste Mal nur auf dem Hinterrad.» Über 12 Jahre sind seit dieser Episode vergangen – und seine Augen glänzen immer noch ein bisschen, wenn er darüber spricht.
Die Eltern organisieren ein Occasion-Trial-Velo, lassen ihn draussen üben. «Wir dachten, dass er die Freude daran wieder verlieren würde», sagt Jürg Blaser. Das Gegenteil trifft ein, die Familie begibt sich auf die Suche nach einem Verein. Im Bernbiet jedoch gibt es keinen. Der Entscheid fällt zugunsten von Passepartout Moudon, nicht zuletzt, weil im Broyetal eine Trial-Halle steht, es sich auch bei Regen und Schnee trainieren lässt. Die Fahrzeit beläuft sich auf eine Stunde pro Weg, der Aufwand für die Eltern ist beträchtlich, der Einstieg verläuft harzig. In Moudon wird Französisch gesprochen, Tom versteht kein Wort. Oft schaut er den anderen eine Stunde lang zu, ehe er selbst aufs Velo steigt. «Wir glaubten immer noch nicht, dass er es ernst meint, und hatten manchmal das Gefühl, er träume einfach vor sich hin», sagt Jürg Blaser. Weit gefehlt, Tom saugt auf, achtet auf die spezifischen Bewegungen, prägt sich Tricks ein. Das erste Trainingslager steht an. Er will teilnehmen, unbedingt, obwohl er sich nur bruchstückhaft verständigen kann. Die Beharrlichkeit obsiegt. Tagsüber kommt er klar, abends fliessen zuweilen Tränen.
«Wir realisierten ziemlich früh, dass ihm der Sport Energie verleiht und ihm diese Energie hilft, in der Schule Ressourcen freizusetzen.»
Im Trial geht es rasant bergauf, in der Schule gemächlich. «Im Sport lernte ich, auf ein Ziel hinzuarbeiten. Irgendwann verspürte ich in der Schule das Bedürfnis, nicht mehr derart viel langsamer zu sein als die anderen», sagt Tom Blaser. In der fünften Klasse kommt das Französisch dazu – für ihn ein gewaltiger Motivationsschub. «Ich hatte einen Bezug, fühlte mich wohl, konnte mich entfalten.» Im Fach Deutsch hingegen passt wenig zusammen, «Aufsätze waren der Horror». Er überlegt, was er schreiben könnte, verliert sich in seinen Gedanken. Bald ist die erste Lektion vorüber, das Blatt immer noch leer. In Mathematik schwimmt er im Strom und vermag sich die nötigen Fertigkeiten anzueignen. Eine Schlüsselrolle spielt die Struktur, er erledigt einen Auftrag nach dem anderen, nicht sieben Aufträge innert sieben Tagen mit freier Zeiteinteilung. Der Übertritt in die Oberstufe naht, die Sekundarschule wird zum Thema. Was zwei, drei Jahre vorher niemand für möglich gehalten hätte. «Die Schule ist zu einer Challenge geworden», sagt Tom Blaser.
Er stellt sich der Herausforderung – und reüssiert. In Französisch schafft er es sogar in die Spez-Sek, in Mathematik in die Sekundarschule, in Deutsch verbleibt er auf Real-Niveau, und im Sport gehört er schweizweit zu den Besten seines Jahrgangs – die Mischung stimmt. In der Lehre hingegen gerät das System aus dem Gleichgewicht. Tom hat sich für eine Ausbildung zum Zimmermann entschieden, im Emmental eine Lehrstelle gefunden. Die Ferien benötigt er für Wettkämpfe und Trainingslager. Der Anfahrtsweg ins Training ist noch länger geworden, die Erholung bleibt auf der Strecke. Im Bestreben, die Lehre zugunsten des Sports um ein Jahr zu verlängern, scheitert die Familie am Willen des Lehrmeisters. «Mit dem Holz hatte ich es gut, mit den Menschen war es schwieriger», sagt Tom Blaser. Weil der Sport im neuen Gesamtkonstrukt zur kurz kommt, wird der Lehrvertrag ein paar Monate später in gegenseitigem Einvernehmen aufgelöst.
Und nun – was tun? Im Trial läuft es rund, Tom ist bei den Junioren Landesmeister geworden. Der unweit von Moudon wohnhafte Nationaltrainer Jean-Daniel Savary bietet der Familie an, Tom über eine längere Zeitspanne für mehrere Tage pro Woche bei sich zu beherbergen. Das Ergebnis: EM-Bronze bei den Junioren. Tom betätigt sich vorübergehend als Hilfsarbeiter in einem Dachdeckerunternehmen, fliegt mit dem selbst verdienten Geld nach Chile, trainiert sieben Wochen gemeinsam mit einem Trial-Spezialisten aus dem Andenstaat, den er im Weltcup kennengelernt hat. Die neue Sprache ist keine Hürde mehr. Tom, mittlerweile 18-jährig, verständigt sich in Englisch und lernt Spanisch, verfügt über ein intaktes Selbstbewusstsein. Er hängt ein weiteres Jahr als temporär arbeitender Sportler an, ehe er gemeinsam mit den Eltern die Entscheidung trifft, sich zum Polymechaniker ausbilden zu lassen.
An der Technischen Fachschule, in Bern als «Lädere» bekannt, haben die Lernenden 14 Wochen Ferien. Entsprechend ist Tom Blaser bei Weitem nicht der einzige Leistungssportler. Der Nachteil: Anders als in einer herkömmlichen Lehre wird kein Lohn ausbezahlt. Die Vorteile jedoch überwiegen, Ausbildung und Sport lassen sich verbinden. Die Kombination aus Beharrlichkeit und Talent beschert Tom auch in der Elite-Kategorie gute Resultate. An den Schweizer Meisterschaften gewinnt er dreimal in Folge Gold. Im Weltcup wird er zweimal Siebter, in der Weltrangliste nähert er sich den Top Ten. In der Lehre kommt er gut voran. Die Arbeit gefällt ihm, im Sommer 2021 schliesst er die Ausbildung ab.
Jürg Blaser atmet tief durch, als er gebeten wird, die letzten 15 Jahre im Schnelldurchlauf Revue passieren zu lassen und ein Fazit zu ziehen. Der aussergewöhnliche hohe zeitliche und finanzielle Aufwand, welche die berufstätigen Eltern für das Gedeihen des Sohns betreiben, ist belohnt worden. «Wir realisierten ziemlich früh, dass ihm der Sport Energie verleiht und ihm diese Energie hilft, in der Schule Ressourcen freizusetzen. Die Beharrlichkeit hat sich auch in der Schule positiv ausgewirkt, er hat sich trotz Schwierigkeiten nicht vom Weg abbringen lassen. Gewiss, er hat oft etwas länger gebraucht als andere, aber er hat es hingekriegt », resümiert der Vater treffend. Tom Blaser hört aufmerksam zu. Seine Geschichte ist ungewöhnlich, seine Dankbarkeit den Eltern gegenüber spürbar.
Das nächste Kapitel soll nach der Pandemie geschrieben werden. Mittelfristiges Ziel ist ein Podestplatz an einer EM oder einer WM, den Unterschied zu den Weltbesten bezeichnet Tom Blaser als «nicht mehr so gross». So trete die Differenz nicht beim einzelnen Hindernis zutage. «Schwierig ist, einen ganzen Parcours fehlerfrei zu absolvieren, unterschiedlichste Hindernisse gleich nacheinander zu meistern. » Was es dazu braucht? Viel Training, eine gewisse Beharrlichkeit und die Fähigkeit, sich hundertprozentig auf die jeweilige Aufgabe zu konzentrieren. Die Vorzeichen stehen demnach gut. Und wenn es trotzdem nicht klappen sollte, ginge die Welt nicht unter. Viel wichtiger ist: Der Sport hat Tom Blaser den Weg ins Leben geebnet.
Vom Bestrafungs- zum Belohnungssystem
Die Sportart Trial, auch Velo-Trial genannt, existiert seit den 1970er-Jahren, ihre Wurzeln hat sie im Motorsport. In Wettkämpfen müssen innert einer vorgängig definierten Zeitspanne unterschiedlichste Hindernisse überquert oder passiert werden. Letztere können natürlicher oder künstlicher Art sein. An Wettkämpfen sehen sich die Teilnehmenden zunehmend mit gebauten Hindernissen konfrontiert.
Das Wertungsmodell befindet sich im Wandel, aus dem Bestrafungssystem wird ein Belohnungssystem. Wurde die Umstellung auf internationaler Ebene (WM, EM und Weltcup) bereits vollzogen, erfolgt sie in der Schweiz Pandemie-bedingt erst 2021. Werden im alten System bei Fehlern (Bodenkontakt mit dem Körper oder dem Velo – mit Ausnahme der Reifen) Strafpunkte vergeben, erhalten die Athletinnen und Athleten im neuen System für fehlerfrei gemeisterte Hindernisse Pluspunkte.
Die Zeit spielt ebenfalls eine Rolle. Wird das Zeitlimit von zwei Minuten pro Zone im neuen System überschritten, oder unterlaufen dem Athleten pro Zone mehr als fünf Fehler, muss er die betroffene Zone verlassen.
Die Wettkämpfe der Männer (Elite und Junioren) werden in zwei Kategorien ausgetragen; die Namen der Kategorien – 20 Zoll und 26 Zoll – sind mit der Grösse der Räder verbunden. Bei den Frauen gibt es nur eine Kategorie. Die Athletinnen können wählen, ob sie die Wettkämpfe mit 20- oder 26-Zoll-Rädern bestreiten wollen.
Tom Blaser begann, wie bei Kindern üblich, mit einem 20-Zoll-Rad. Seit ein paar Jahren ist er ausschliesslich mit dem 26-Zoll-Rad unterwegs. Bei Trial handelt es sich um eine von acht Sportarten, in denen der Weltverband UCI Weltmeisterschaften und Weltcuprennen durchführt.
Dieser Beitrag wurde in der letzten Ausgabe des Printmagazins „Ready to Ride“ publiziert.